Der Sohn des Verderbens. Paul Baldauf
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„In Gesellschaft kann man einsamer sein.“
Er ließ sie stehen. Sie blickte ihm nach und schüttelte den Kopf. Na, ja, zumindest gab es jetzt wieder genug Stoff für Tratsch in der Mittagspause.
In seinem Kabuff angekommen, schloss er die Tür hinter sich. Er blickte auf seinen Wandkalender und sah, dass jemand mehrere Blätter abgerissen haben musste, um ihn auf den neuesten Stand zu bringen. Unverschämtheit! Sicher eine der Buchhalterinnen. Vor Wochen war er erst Ohrenzeuge eines seltsamen Vorfalles geworden. Die neue, langhaarige Buchhalterin stand auf der obersten Treppenstufe und rief etwas hinab, was ihn überraschte: ’Wenn Weiber zu Hyänen werden…’ Vermutlich verstand sie sich auch nicht gut mit ihr. Er hängte seine Tasche über den Stuhl und fragte sich, wie lange er das Alles noch aushalten sollte. Noch an die 10 Jahre bis zur Rente…Obwohl, vielleicht bekomme ich ja tatsächlich Heimarbeit und reduziere hier…Er sah sich um und entdeckte, dass ein neuer Schwung Arbeit neben seinem Bildschirm lag. Darunter ein schriftlicher Hinweis in einer Handschrift, die ihm gar nicht vertraut war. Er erschrak, als er das Kürzel darunter las: Es stammte von Windbeutler! So weit er es entziffern konnte, sollte er sich einmal Kostenstellen und Stundensätze vorknöpfen und den Umsatz der Außendienstler sowohl graphisch als auch tabellarisch in einer Weise darstellen, die Windbeutler als leicht interpretierbare Entscheidungshilfe dienen sollte. Er horchte auf: Also hat Windbeutler doch einen Plan mit mir…! Er wurde von einer eigenartigen Stimmung erfasst. Spürte er auf der einen Seite das Gewicht seiner Jahre, seiner häuslichen und beruflichen Situation, so fühlte er sich auf einmal zugleich von hoffnungsvoller Unruhe erfasst. Wenn Windbeutler ihm mehr Arbeit aufbürden und ihn dazu freistellen würde, einen Teil davon zu Hause zu erledigen, wer weiß, ob seine Frau ihn dann nicht eher akzeptieren, am Ende vielleicht sogar noch stolz auf ihn werden würde…Telefongeklingel schreckte ihn auf. „Hier Weidmann, Personalbüro…, Folgendes:“ Die mit ihrem ’Folgendes’: Das kann ich auch nicht mehr hören! Er atmete schwer. „Hallo?“ „Ja!“ „Können Sie mal rüberkommen?“
Was bildet die sich eigentlich ein? Diese Weidmann ist bestimmt jünger als ich und noch gut zu Fuß. Warum kommt sie nicht zu mir?! Er legte auf und erhob sich. Die Tür zum Arbeitszimmer von Unterberger stand offen. Dort angekommen, trat dieser auf ihn zu: „Kommen Sie bitte rein, Herr Morgur.“ Er schloss die Tür hinter sich und sah sich etwas orientierungslos auf seinem Schreibtisch um: Lohn- und Gehaltsabrechnungen, Karteikarten, Urlaubszettel, ein Druckerhandbuch. „Moment e mohl.“ Er besann sich und fand wieder in die Spur zurück. Im Nebenzimmer hörte man Geklapper einer Schreibmaschine. Wer schrieb heutzutage noch auf einem solchen Gerät? Beschäftigte Unterberger wieder den Auszubildenden mit sinnlosen Fingerübungen? „Herr Morgur, warum ich Sie habe anrufen lassen…“ Er deutete auf einen Stuhl. „Nehmen Sie Platz. So, jetzt!“ Unterberger kämpfte offensichtlich mit Anlaufschwierigkeiten. Morgur sah ihm unverwandt ins Gesicht. Der Leiter des Personalbüros beugte sich nun etwas nach vorn. Seine Ärmel waren aufgekrempelt. Er trug eine weinrote Weste und sah aus, wie man sich einen Ortsvorsteher aus ländlichem Raum vorstellen mag. „Ich hab mir vorhin mal die Urlaubslisten durchgesehen und festgestellt, dass Sie noch alten Urlaub haben…Ich weiß nicht, wieweit Ihnen bewusst ist, dass er nach einiger Zeit auch verfallen kann?“ Morgur erinnerte sich, dass unter Kollegen einmal davon die Rede gewesen war, dass Unterberger − auf schon chronische Weise − immer einen beträchtlichen Urlaubsüberhang mit sich herumschleppte.
„Ja, ich weiß.“
„Ich wollt‘s Ihnen nur sagen. Nicht, dass es dann nachher heißt: Warum hat mich niemand darauf hingewiesen?“
„War das alles?“
Unterberger nickte und erhob sich. Das Ziel dieser kleinen Aktion erschloss sich nicht auf Anhieb. Auf jeden Fall schien es Morgur, dass im Verhalten des Personalleiters Menschlichkeit zum Vorschein gekommen war. Als Morgur wieder im Flur war, gingen ihm Fragen durch den Sinn: Urlaub? Wohin? Sie fährt ja nie mit mir. Soll ich irgendwohin fahren und im Hotel am Katzentisch sitzen? Zuhause bleiben? Welches Zuhause?
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