Der Sohn des Verderbens. Paul Baldauf
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Читать онлайн книгу Der Sohn des Verderbens - Paul Baldauf страница 6
Herr Unterberger blickte ihn ungläubig an und zog ein Gesicht, als sei nun ein Meineidiger gleich einer Unwahrheit zu überführen. Bevor er etwas entgegnen konnte, preschte Riesbacher nach vorn:
„Richtich, richtich, da isse ja.“
Er hatte die Liste hinter einem Ordner entdeckt. Unterberger spürte, wie sich seine Gereiztheit einem neuen Höhepunkt näherte.
„Ja, so kann ich das nicht brauchen!“ Der Gesichtsausdruck des Auszubildenden glich in bemerkenswerter Weise einem Fragezeichen. Unterberger legte nach: „Wenn Sie mir die Liste zurückgeben, dürfen Sie sich nicht einfach hinter den Ordner legen.“ „Hab ich auch nicht. Den Ordner haben Sie nachher erst hervorgeholt. Der stand vorher gar nicht da.“
Unterberger kochte und schnaubte. Riesbacher, der aus irgendeinem unbekannten Grund guter Dinge war, schaltete sich quirlig ein:
„Herr Unterberger, das ist ja schon bedenklich. Sie werden doch nicht langsam vergesslich werden, so wie unser…, Sie wissen, wen ich meine.“
Jetzt stellt er sich auch noch auf die Seite des Auszubildenden! Unterberger tobte innerlich. Na, warte, das zahle ich dir heim!
6. Kapitel
Karl Windbeutler, Dipl.-Kaufmann und Geschäftsführer des Unternehmens, drückte auf eine Taste, die ihn mit seiner Sekretärin verband.
„Ja, bitte?“
“Sagen Sie Herrn Morgur, er soll raufkommen!“
„Sofort.“
Die Sekretärin wählte die Durchwahl, die sie – wie so viele Telefonnummern – auswendig wusste. Sie rief sich die Gestalt des Mannes vor Augen, den viele für einen Sonderling hielten und der, einen Stock tiefer, in ein kleines Zimmer verbannt war. Eigentlich seltsam, dass er nicht mehr mit den drei Buchhalterinnen zusammensitzt…Sie zuckte mit den Achseln, die Verbindung kam zustande:
„Der Chef sagt, Sie sollen heraufkommen.“
Am anderen Ende der Leitung hörte sie schwere Atemzüge.
„Hallo?“
„Ich habe gehört.“
Eigenartige Stimme…Klingt, als hielte er sich ein Tuch vor den Mund. Sagt nur drei Worte. Heißt das jetzt, dass er gleich kommt? Kein Wunder: Den ganzen Tag allein…Angeblich verheiratet…Warum kommt sie dann nie zum jährlichen Betriebsfest? Ob der Kinder hat? Schwer vorstellbar. „Also sage ich ihm, dass sie gleich hochkommen, ja? Hallo?“
Es dauerte nicht lange und sie hörte Schritte im Gang. Die Tür zu ihrem Zimmer stand mit Absicht einen Spalt weit auf. So war sie schneller ’vorgewarnt’, wenn jemand im Anmarsch war. Schließlich oblagen ihr als Chefsekretärin schon gewisse Repräsentationspflichten, die es nach ihrem Dafürhalten erforderten, dass sie einen nicht unwesentlichen Teil ihrer Arbeitszeit vor einem Spiegel stand oder hineinschaute: Hier den Scheitel zurechtrückte, da Wimperntusche oder dezentes Make-up überprüfte, bald den aufgetragenen Lippenstift nachzog oder sich die Nägel nachlackierte, alles Tätigkeiten, die in ihrer Arbeitsplatzbeschreibung unverständlicherweise gar keine Erwähnung fanden. Dabei investierte sie dafür nicht unbeträchtliche Summen aus ihrem Privatguthaben, Gelder, die sie im Interesse der Firma für ihre optische Erscheinung einsetzte, während andere ihr Geld für firmenfremde Zwecke verschleuderten. Sie blickte an sich herab: Der Rock saß gut. Dann blickte sie auf. Herr Morgur stand vor der Tür und klopfte dreimal an. In diesem Moment öffnete sich die Tür nebenan. Der Geschäftsführer blickte mit ungeduldiger Miene zur Tür und nahm den Ankömmling ins Visier.
„Kommen Sie gleich rüber.“
Der Stimme des Chefs klang ausgesprochen trocken, während er Herrn Morgur musterte. Es schien, als wisse er noch nicht recht, was von diesem Mann − von seiner fachlichen Kompetenz einmal abgesehen −zu halten sei. Morgur sah auf, blickte ausdruckslos und bewegte sich langsam nach vorn. Von der Sekretärin nahm er keine Notiz. Dieser fiel auf, dass Morgurs Schuhe an einigen Stellen nicht geputzt waren. Wo mochte er sich herumgetrieben haben? Längere Spaziergänge? Mit seiner Frau? Warum erzählte er nie von ihr? Was erzählte er überhaupt? Nun, da die Tür nebenan sich hinter Morgur schloss, dachte sie über die letzte Frage nach. Ihr war aufgefallen, dass er seit Jahren kontinuierlich stiller geworden war. So wie andere jedes Jahr etwas an Gewicht zunahmen oder vergesslicher wurden, so war Morgur immer sprachloser geworden. Manchmal sah sie ihn, wie er durch die Gänge ging, immer mit diesem dumpfen, etwas scheuen, kaum ergründbaren Blick. Es würde mich nicht wundern, wenn er auch ohne Sonnenlicht Schatten wirft…Sie begab sich unter einem Vorwand in die Nähe der Tür, die zum Reich von Windbeutler führte, näherte ihr Ohr an, doch sie konnte vereinzelt zu ihr dringende Laute nicht verstehen. Das war Windbeutler…, unverkennbar, diese unpersönliche Stimme, die an Kreide denken ließ. Manchmal, das beobachtete sie, tat er jovial-leutselig. Aber sie konnte er damit nicht täuschen. Waren die Leute für ihn nicht meist nur Mittel zum Zweck? Würde mich interessieren, was er von Morgur hält…Sie lauschte und hörte nun Bruchstücke der Unterhaltung, zu der von Windbeutler − im Unterschied zu seiner sonstigen Gewohnheit − niemand hinzugezogen worden war. So kann man auch den Tag rumkriegen: Eine Besprechung jagt die andere…
„Herr Morgur…, über Ihre fachlichen Kenntnis habe ich keine Zweifel, aber…, in Anbetracht…“
Mehr war nicht zu verstehen. Was erzählt er da? Als sie eine Viertelstunde später wieder an ihrem Platz saß, öffnete sich plötzlich die Tür. Morgur tauchte auf, schloss die Tür hinter sich, schaute sie an, als habe er sie heute noch gar nicht gesehen. Sie klappte ihren Terminkalender zu und sah ihn an, so als erwarte sie eine Erklärung. Doch Morgur blieb still, während er Schritt um Schritt nach vorn setzte und ihr Zimmer verließ. Fällt mir jetzt erst auf, dass er seit letztem Jahr nur noch Kleidung dunkler Farben trägt: Grau, Braun, Schwarz oder Dunkelgrün…Und immer diese altmodischen Hosen und Mäntel. Wenn ich so herumlaufen würde…Sie schüttelte den Kopf.
7. Kapitel
Herr Riesbacher blätterte seinen selbst angelegten Karteikasten durch, auf dem sämtliche Lieferanten, alphabetisch penibel geordnet in tadellos-einwandfreier Schrift angeordnet waren. Sicher, das Ganze befand sich nach einem von einem Programm vorgegebenen System in anderer Form auch in seinem Computer. Doch mit diesem grauen Rechenknecht konnte er sich nicht anfreunden. Wie ganz anders waren da doch seine Karteikarten! Wenn er sie durchblätterte, auf, ach so vertraute Namen stieß: Wie viele Erinnerungen verbanden sich damit, waren darauf doch, neben den üblichen Kontaktdaten, auch die Namen der wichtigsten Vertreter notiert. Diese zählten für ihn, nach nahezu 40 Jahren Dienst für dieselbe Firma fast schon zur Familie. Sie konnten ihm auch nichts vormachen. Er kannte die Ränke und Schliche jedes Einzelnen, mit denen sie versuchten, an den Preisen für 1 Ries Papier 80 g / holzfrei – nur ein Beispiel, das er besonders gerne zitierte und verhandelte – kleine Feinjustierungen vorzunehmen. Dann fackelte er nicht lange und ließ sie gleich merken, dass er solche Spielchen sofort durchschaute. Notfalls stellte er sie auch vor anderen bloß und weidete sich an ihrer Verlegenheit. Dann brachte er dies schon mal in etwas taktlosen Bemerkungen zum Ausdruck, die er mit lang ausklingendem Gelächter begleitete, das dem Gemecker einer bestimmten Spezies zuweilen merkwürdig ähnlich klang.
Was wäre ich, so fragte er sich manchmal, ohne meine Karteikarten? Auf der Rückseite enthielten sie mit Füller gestochen scharfe und präzise festgehaltene Besonderheiten zu Papiergewichten und -bezeichnungen, eingeräumten