Der Sohn des Verderbens. Paul Baldauf
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11. Kapitel
Einige Tage des neuen Jahres waren schon ins Land gezogen, als Hauptkommissar Puhrmann wieder einmal zu seinem schon traditionellen kleinen Sektempfang zum Anfang eines neuen Arbeitsjahres einlud. Den Zeitpunkt hierfür legte er immer auf den späten Nachmittag, so dass dem Genuss von Sekt auch für die ’Kollegen auf Streife’ praktisch nichts mehr im Wege stand. Seine Ansprachen waren berüchtigt. Er bemühte sich um aufrechte Haltung und streckte hierzu den Rücken durch. „…und so darf ich zum Abschluss noch sagen, dass ich…, dass wir wirklich erfreut sind, dass unsere frühere Auszubildende…, Sandra Schneebel − die wir ja alle als sehr lernwillige, verbindliche und …− wie soll ich sagen − Nachwuchskraft, kennen gelernt haben − dass Sandra Schneebel…, kurzum: Ich darf Ihnen allen mitteilen, dass ihre Übernahme durch ist: Ein Applaus!“ Sandra dankte artig und genoss den Beifall. Geschafft…Einer nach dem anderen trat nun alle nach vorn und schüttelte ihr die Hand. Puhrmann dirigierte danach nach vorne zum Ausschank, wo Sekt und Orangensaft in gleichen Mengen warteten. Wer konnte, machte heute sowieso früher Schluss. Als sich die meisten wieder verliefen, ging Wagner nochmals in sein Büro, hängte den alten Kalender ab, brachte einen neuen an. Auf einmal klopfte es. „Herein!“ Unter dem Türrahmen stand Rehles, der, wie es aussah, ein weiteres Jahr eng mit ihm zusammenarbeiten würde. „Auch noch da?“ Der Kommissar trat herein und streckte ihm, zu seiner Überraschung, nochmals die Hand hin: „Alles Gute noch zum Neuen Jahr!“ „Danke, Ihnen auch. Den Anfang gut verbracht?“ Darauf wollte ich eigentlich nicht zu sprechen kommen. Fehlt mir nur noch, dass er mir jetzt erzählt, wie viele Raketen er wieder geschossen hat. „Schön, dass Sandra übernommen wurde.“ „Ja, finde ich auch. Ob sie jetzt ein anderes Zimmer bekommt?“ „Glaube schon. Sie kann ja nicht ewig in diesem Kabuff bleiben.“ Wagner erinnerte sich wieder an Sandras Hilfe im ’Fall Jan Silias’. Er seufzte auf. Das war auch schon wieder eine Weile her, der arme Jan. Dann kehrten seine Gedanken wieder zu Sandra zurück. Ob sie noch ihren ‘Schaich‘ in England hat? Wie hieß der noch: Peter? Er wandte sich wieder seinem Gesprächspartner zu:
„Gehen Sie auch bald nach Hause?“
Rehles sah auf die Uhr, nickte, erhob eine Hand zum Gruß und ging seines Weges. Ich glaube, Oksana hat Recht. Für ihn muss das ganz anders sein, als für mich: Wenn er, nach der Arbeit, seine Wohnung betritt, ist niemand da. Was für ein Zuhause hat er?
12. Kapitel
Herr Voragin schlug ein Bein über das andere, lehnte sich bequem zurück und vertiefte sich erneut in die ’Süddeutsche’. Nach einiger Zeit setzte er seine starke Brille ab und säuberte sie penibel. Wie schön, so ein Samstagvormittag. Endlich Zeit, um in Ruhe die Zeitung zu lesen. Im Hintergrund hörte man Musik von Mike Oldfield, Tubular Bells. Er setzte die Brille gerade wieder auf, als seine Frau das Wohnzimmer betrat. „Schon vom Markt zurück?“ „Ja, wenn man früher geht, ist es noch nicht so voll und man wird schneller fertig. Immer wieder herrlich diese Fülle an Obst und Gemüse, an Brot- und Käsesorten. Allein schon die Farben!“ Er stimmte beiläufig zu und vertiefte sich wieder in einen Artikel über moderne Pädagogik, für ihn als Pädagogen geradezu eine ’Pflichtlektüre’. Seine Frau hegte eine hohe Meinung von seinem akademischen Fachhochschul-Hintergrund, während sie ihre eigene, halbtags ausgeübte Profession ’Krankengymnastin’ zu bescheiden einschätzte. Daher übernahm sie an Samstagen die Einkäufe meist selbst, wusste sie doch, dass er sich dann gerne der Zeitungs- oder sonstiger Fachlektüre hingab, was er gerne mit ‘Fortbildung ist schon enorm wichtig!‘ zu kommentieren pflegte. Überdies war er der Auffassung, dass Frauen für solche Dinge wie Einkaufen einfach einen anderen, besseren Blick hätten, was weder mit ihrer Sozialisierung noch mit althergebrachten Vorurteilen erklärbar, vielmehr ein nachgewiesenes Faktum sei. Was sollte sie einer derartigen Argumentation entgegenhalten? Davon abgesehen ging sie gerne einkaufen, so dass es nicht zu Reibereien kam. Während sie nun noch die Frische des auf dem Markt angebotenen Gemüses pries, sich in Schilderungen herrlicher Obstsorten und anderen Schätzen der Natur hingab, war er schon wieder in seine Fachwelt abgetaucht. Wenn er sich dann, einem natürlichen Drange nach Verständigung folgend, in Kommentaren erging, die Vorzüge und Nachteile bestimmter pädagogischer Konzepte erläuterte, sprach er zuweilen für sie so unverständlich, dass sie oft nur noch mit ’ach, ja?’, ’ach, so!’ und ähnlichen Füllwörtern reagierte. Merkwürdig fand sie , dass ihn ihre Einsilbigkeit gar nicht zu stören schien. Vielmehr kam es ihr fast so vor, als wäre er gar nicht ernsthaft an ihrer Meinung interessiert. Sie konnte sich darauf keinen rechten Reim machen. Vielleicht war das einfach so mit Akademikern? Die Hauptlast der Erziehung musste ohnehin sie tragen. Nach einer Theorie, die er ihr gerne wortreich und unter verschiedenen Aspekten ihrer historisch-soziologischen Entwicklung erläuterte, waren Frauen hierfür einfach viel geeigneter, von Natur aus, wie er sich ausdrückte, ’einfach viel näher dran.’ Als Beleg für seine These brachte er vor, dass Männer schon von der Wahrnehmung her ganz anders veranlagt seien. Ihr Blick ginge – von Ausnahmen abgesehen – doch mehr ins Große und Ganze, weshalb es auch keine Frauen gegeben habe, die je ein großes philosophisches System geschaffen hätten. Dies sei mit der Einschränkung verbunden, dass dann Naheliegendes leicht übersehen werde und hier setze die Domäne der Frauen ein. Er spickte seine Erläuterungen noch mit Begriffen aus der Psychologie, die sie vollends aufs Glatteis führten. Wenn er von Ich, von Überich und Es, von Individuation, von Anima und Animus sprach, zog sie sich meist schnell und unter einem Vorwand in eine Ecke des Zimmers zurück und widmete sich Dingen, die ihr näher lagen, wie Lesen oder Seidenmalerei.
„Wo ist Alina?“
Er löste sich mühsam von seiner Süddeutschen und blickte zerstreut auf: „Alina? Hm, ich glaube…, sie ist in ihrem Zimmer.“
„Ich sehe mal nach, was sie macht.“
Er klappte die Zeitung zu und drehte sich nach rechts:
„Meinst du? Ich denke, wir sollten nicht zu oft nach ihr sehen. Sie braucht auch ihren Freiraum. Das ist enorm wichtig. Sie ist ja schließlich kein Kind mehr.“
Ihr Blick fiel auf ein Foto ihrer Tochter, das auf einer kleinen Freifläche des Wohnzimmerschrankes stand. Seit der Arzt ihr sagte, dass sie keine weiteren Kinder mehr bekommen könne, liebte sie Alina noch mehr. Wie schön sie auf dem Foto aussah. Auf dem Foto? Ach, nicht nur da, immer und überall. Sie betrachtete ihre herrlichen blonden Haare, ihr schmales Gesicht mit den großen blau-grauen Augen. Wie vernünftig sie für ihr Alter ist. Sie konnte sich kaum erinnern, dass sie ihnen jemals größere Sorgen bereitet hätte. Sicher, damals, ihre zarte Gesundheit, das war manchmal schon aufregend. Aber davon abgesehen? Auch in der Schule kam sie gut mit, zu jedem war sie freundlich, alle Nachbarn mochten sie. Nur gewann sie manchmal den Eindruck, dass Alina Geschwister fehlten. Zog sie sich in letzter Zeit nicht zu sehr auf ihr Zimmer zurück? Mit ihrem Mann wollte sie jetzt lieber nicht darüber sprechen. Er war schnell mit einem längeren Diskurs ’aus pädagogischer Sicht’ zur Hand. Andererseits: Alina las gerne und wenn sie so still und friedlich, in ein Buch vertieft, auf ihrem Zimmer saß, sah es nicht danach aus, dass Alina etwas fehlte. Oder vielleicht doch?
Ihr