Schön und ermordet: Zwei Kriminalromane. Alfred Bekker
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Es war nicht anzunehmen, dass sich alle gesuchten Personen bewusst der Fahndung entzogen. Trotz Computerfahndung, trotz eines funktionierenden Meldesystems und ständig aktualisierter Fahndungslisten blieb es bei der Freizügigkeit eines modernen Industriestaates nicht aus, dass bei Orts- oder Wohnungswechseln Daten verloren gingen oder unvollständig nachgetragen wurden. Hinzu kam, dass Prostituierte, Stripgirls, Animiermädchen oder Bardamen häufig nicht unter ihren richtigen Namen auf dem Kiez arbeiteten, trotz scharfer Kontrollen durch die Inspektoren der Gesundheitsämter, der Gewerbeaufsicht und nicht zuletzt der AOK. Denn zu oft kam es vor, dass die Geschäftsführer zwielichtiger Unternehmungen die Versicherungsbeiträge ihrer Angestellten unterschlugen.
Bis zum Nachmittag hatte er sich eingearbeitet.
Er hatte einige Vorgänge aussortiert, weil sie überholt waren oder sich von selbst erledigt hatten, zu anderen hatte er ergänzende Informationen angefordert oder Routinemaßnahmen eingeleitet.
Kurz vor Dienstschluss warf ihm der Bote der Poststelle noch einen Hauspostbrief auf den Schreibtisch. Roth telefonierte gerade mit einem Polizeiposten auf der Nordseeinsel Amrum. Er vermutete, dass dort während der Sommersaison eine Serviererin arbeitete, die bereits zum vierten Mal einer gerichtlichen Zeugenvorlage nicht nachgekommen war.
Er klemmte den Hörer zwischen Schulter und Ohr fest, und während er darauf wartete, dass sich der Kollege am anderen Ende erneut meldete, zog er das Fahndungsformular aus dem Umschlag.
Er sah sofort, dass das Fahndungsersuchen vom Gericht kam, aber es musste innerhalb des Polizeipräsidiums an ihn weitergeleitet worden sein, weil es sonst nicht mit der Hauspost gekommen wäre. Das Gekritzel des letzten Absenders in der dafür vorgesehenen Spalte auf dem Umschlag konnte er nicht entziffern. Vermutlich hatten die Kollegen oder Tondorf selbst ihm das Formular zugeschickt, weil er vorübergehend für die Koordinierung der Fahndung innerhalb der Soko Heinen zuständig war.
Er faltete das Blatt auf.
Der Name traf ihn wie ein Fausthieb in den Magen.
Sigrid Wolf.
Langsam legte er den Telefonhörer auf, ohne die Antwort des Kollegen aus Amrum abzuwarten.
IV
Roth blieb im Wagen sitzen, nachdem er endlich eine Lücke für den Dienstwagen gefunden hatte. Er drehte die Seitenscheiben herab, um die kühle Luft hereinzulassen, die jetzt vom Hafen heraufstieg.
Wenn er den Kopf verdrehte, konnte er den Eingang des kleinen Ladens beobachten. Hin und wieder kam sie heraus, um einige Kleider auf dem Metallständer zu ordnen oder einer Kundin behilflich zu sein, die sich dann doch nicht für einen der bunten Fummel entscheiden konnte.
Es war Sommer, und die Touristen, die sich durch die engen Straßen rund um den Großneumarkt schoben, waren einfach zu bieder für die poppige Mode der kleinen Boutiquen.
Sie sah so unglaublich jung aus, jung, schmal und verletzlich. Martina Wolf. Tina, wie Sigrid ihre jüngere Schwester immer genannt hatte. Sigrid hatte oft von Tina gesprochen, obwohl die beiden einander kaum sahen und nicht viel gemeinsam hatten. Tina war elf Jahre jünger als Sigrid. Sie musste jetzt zweiundzwanzig oder dreiundzwanzig sein. Damals, als er mit Sigrid befreundet gewesen war, war Tina erst sechzehn gewesen, ein Kind noch, hatte noch bei ihren Eltern gelebt, während Sigrid längst eine eigene Wohnung gehabt hatte.
Er wandte den Blick von Tinas zierlicher Gestalt und starrte in den tiefer werdenden Schatten der engen Gasse. Warum ging er nicht einfach zu ihr, zeigte ihr seinen Ausweis und fragte sie, wo ihre Schwester sich aufhielt?
Als Erstes hatte er festgestellt, dass Sigrids Name im neuen Telefonbuch schon nicht mehr verzeichnet war. Im Melderegister wurde sie noch unter ihrer alten Anschrift in Harvestehude geführt. Er war sofort hinausgefahren, hatte aber nur festgestellt, dass in der Wohnung ein Lehrerehepaar wohnte, das den Namen der Vormieterin nie gehört hatte.
Irgendjemand suchte Sigrid.
Dieselbe Sigrid, die er vor sechs Jahren verlassen hatte, um Helga zu heiraten. Er hatte Helga geliebt. Aber ihre Liebe zu ihm war nicht stark genug gewesen, um die Belastung, die sein Beruf mit sich brachte, auszuhalten. Vor zwei Monaten hatte sie ihn verlassen. Einfach so. Sie hatte ihre Sachen in ein paar Kartons gestopft, in ihren Mini geladen und war davongefahren. Sie hatte ein kleines Apartment gleich am Wandsbeker Markt gemietet, wo sie bei einem Rechtsanwalt arbeitete.
Als er erneut zu der kleinen Boutique hinüberblickte, ließ Tina schon das Rollgitter herab, obwohl es noch nicht halb sieben war. Er angelte seine Jeansjacke vom Rücksitz und stieg aus.
Sie kam ein paar Minuten später aus dem Hauseingang neben dem Laden. Er folgte ihrem schwingenden Folklorerock zum Großneumarkt hinauf. Sie trug das helle Haar kurzgeschnitten. Ihr Gang war schwungvoll, fast wie der eines Jungen. Unwillkürlich musste er lächeln.
Am Großneumarkt steuerte sie eins der Lokale an, vor denen Tische mit langen Bänken im Freien standen. Sie warf ihre Umhängetasche mitten auf den Tisch und setzte sich ans Ende der Bank. Sie kramte in der geräumigen Tasche herum, bis sie ihre Zigaretten fand. Mit dem Feuerzeug hatte sie dann Schwierigkeiten.
»Nehmen Sie meins«, sagte er, stieg neben ihr über die Bank.
Sie nahm das Feuerzeug, ließ die Flamme aufleuchten und gab es ihm zurück, ohne ihn anzusehen. Bei der Kellnerin bestellte sie ein Glas Weißwein. Sie sah ihn immer noch nicht an, als er sich ihrer Bestellung anschloss.
»Sie sind Tina«, sagte er.
Endlich wandte sie den Kopf und bedachte ihn mit einem ernsthaft prüfenden Blick aus leicht schrägen Augen. Sie zog dabei die Nase kraus und schürzte die Lippen vor Anstrengung, weil sie ihn nicht in ihrem Gedächtnis fand.
»Woher kennen Sie mich? Stellen Sie mir nach? Wieso wissen Sie, dass ich hier bin?«
»Eine Menge Fragen auf einmal«, sagte er bedächtig, »ich habe Ihre Mutter angerufen, und die hat mir gesagt, wo Sie arbeiten.«
»Meine Mutter? Am Telefon? Sie sagt nicht jedem hergelaufenen ...«
Sie unterbrach sich, als die Kellnerin den Wein brachte, sah ihn stirnrunzelnd und ohne Freundlichkeit an.
»Nicht jedem hergelaufenen Kerl, das ist richtig«, sagte er. »Sie erinnerte sich an mich. Ich bin Jürgen Roth.«
Die Flügel ihrer Stupsnase weiteten sich, und die grün schillernden Augen betrachteten ihn plötzlich mit wachem Interesse.
»Sie sind der Bulle!«, stellte sie fest.
Ihre Stimme klang etwas atemlos. Ohne ihn aus den Augen zu lassen, nippte sie an ihrem Glas. Er fühlte sich gemustert und analysiert, und es irritierte ihn, dass er nicht wusste, wie und wo sie ihn einordnete. Als den Typ, der ihre Schwester sitzen gelassen hatte?
»Und was wollen Sie von mir?«, fragte sie schließlich.
»Sigrids Adresse«, sagte er beiläufig. Die hatte Frau Wolf ihm nämlich nicht gesagt. Weil sie sie nicht kannte, hatte sie behauptet, und Roth hatte ihr geglaubt.