Hilmer. Jörg Olbrich
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„Wir halten unsere Bevölkerungszahlen seit vielen Generationen konstant“, sagte Helmut entschieden. „Muss ich euch wirklich an die heiligen Schriften erinnern? Seitdem der furchtlose Wonibalt zu Beginn unserer neuen Zeitrechnung als Erster eine Gruppe über den Todesfelsen geführt hat, folgen wir diesem Beispiel und es geht uns gut. Hunger, Wohnungsnot und Seuchen gehören der Vergangenheit an und sind uns nur noch aus sehr alten Schriften bekannt. Solange wir diese geregelten Selbstmorde beibehalten, wird es uns an nichts mangeln.“
„Aber genau dafür haben wir ja jetzt die Alternative“, erwiderte Hörg. „Kein Lemming muss sich mehr umbringen.“
„Schweig“, donnerte Helmut. „Ich will nichts mehr von diesem Unsinn hören. Ihr lästert damit gegen die heiligen Thesen unseres Propheten.“
„Vielleicht sollten wir zumindest einen Versuch machen, ob diese Bonbons funktionieren“, schlug Dieter vor. Der Hamster hatte bisher schweigend auf einem Teppich neben dem königlichen Thron gesessen und das Gespräch interessiert verfolgt.
„Halte du dich da raus!“, rief Helmut und warf Dieter einen bösen Blick zu.
„Aber ich bin dein Berater“, entgegnete der Hamster verwirrt.
„Nicht in diesen Fragen“, wiegelte Helmut ab.
„In welchen dann?“, wollte Hörg wissen und fing sich dafür einen Tritt von Henni ein.
„Bist du wahnsinnig“, zischte dieser leise. „Reiz den König nicht noch mehr. Sei froh, dass das außer uns keiner gehört hat.“
Außer den drei Lemmingen und Dieter war der Audienzsaal leer. Zumindest, wenn man die Fliegen nicht mitzählte, die an der großen Fensterscheibe saßen, durch die das Licht in den Raum fiel.
Vor der verschlossenen Eingangstür standen zwei Wachen, um zu verhindern, dass sich ungebetene Gäste dem König näherten. Die meisten Einwohner in der Stadt waren froh, wenn sie Helmut nicht sahen. Deswegen bestand kaum die Gefahr, dass sich einer der Lemminge in den Palast verirrte. Aber man konnte ja nie wissen.
„Mit unseren Bonbons können wir die Massenselbstmorde stoppen“, unternahm Henni einen erneuten Versuch, Helmut zu überzeugen.
„Warum sollte ich das wollen? Es hat sich doch nie jemand über dieses Gesetz beschwert.“
„Weil du dann als der König in die Geschichte eingehen wirst, der den Lemmingen ein längeres Leben brachte“, antwortete Hörg.
„Und wenn ich das nicht will? Seit vielen Generationen folgen wir nun dem großen Propheten in das Totenreich. Ich sehe keinen Grund das zu ändern.“
„Wir folgen ihm“, verbesserte Henni den König.
„Was willst du damit sagen?“, blaffte Helmut.
„Dass du Wonibalt nicht folgst. Du bist der einzige Lemming, der sich nicht nach Vollendung seines fünfzehnten Lebensmonats von den Klippen stürzt.“
„Höre ich da leise Kritik?“, fragte Helmut scharf.
„Nein! Natürlich nicht“, versicherte Henni. „Vielleicht wäre es aber der richtige Zeitpunkt, die Gesetze zu überdenken.“
„Ich soll mich gegen die heiligen Thesen stellen?“, fragte der König und starrte den Erfinder aus funkelnden Augen an. „Niemals!“
„Vielleicht wäre Wonibalt nicht von den Klippen gesprungen, wenn er eine andere Lösung gehabt hätte“, warf Hörg ein. „Womöglich hätten ihn unsere Bonbons überzeugt.“
„Blasphemie“, schrie Helmut. Die Gesichtsfarbe des Königs nahm ein gefährliches Rot an und er griff sich mit der rechten Pfote an die Brust.
Dieter brachte sich in Sicherheit, indem er schnell ein paar Schritte vom König weg huschte. Böse Zungen behaupteten, dass seine Beziehung zum König alles andere als geschäftlich war. Glaubte man den Tratschweibchen im Palast beriet er ihn in ganz anderen Dingen. Gegen Helmuts Wutausbrüche war aber auch der Hamster machtlos.
„Ich werde es nicht dulden, dass ihr Wonibalts Namen weiter in den Dreck zieht“, schrie Helmut. „Dieter, hol die Wachen! Sie sollen diese beiden Ungläubigen in den Kerker werfen. Dort bekommen sie bis zu ihrem Todestag Gelegenheit, über ihr unsittliches Treiben nachzudenken.“
Dieter eilte zum Eingang, öffnete die Tür und wechselte ein paar Worte mit den Wachen.
„Schafft sie mir aus den Augen!“, befahl Helmut energisch, als die beiden Lemminge in den Raum traten. „Ich möchte diese Witzfiguren niemals wieder in meinem Audienzsaal sehen.“
Henni und Hörg wussten, dass es an diesem Tag keinen Sinn mehr machte, mit dem König zu sprechen. Sie ließen sich abführen, ohne sich zu wehren. Schon mehrmals waren sie nach einer Audienz in den Katakomben des Palastes gelandet. Bisher hatte es aber nie lange gedauert, bis man sie wieder an ihren Arbeitsplatz gelassen hatte. Beide vertrauten darauf, dass es auch diesmal so sein würde.
Helmut setzte sich erleichtert auf seinen Thron, als die Wachen mit den Erfindern verschwunden waren. „War es das für heute?“, fragte der König seinen Berater, der als Einziger bei ihm im Saal geblieben war.
„Leider nicht“, antwortete Dieter. „Draußen steht noch eine Gruppe von vier Männchen, die dich unbedingt sprechen wollen.“
„Lass sie herein“, sagte Helmut resignierend. „Schlimmer als mit den beiden Verrückten kann es jetzt auch nicht mehr werden.“
3
„Du weigerst dich also, dem furchtlosen Wonibalt in das gelobte Land zu folgen?“, stellte Helmut irritiert fest.
Der König wunderte sich, welch seltsame Stimmung an diesem Tag in seinem Volk zu herrschen schien. Während seiner fast zehnjährigen Regentschaft hatte nie ein Lemming die Massenselbstmorde infrage gestellt. Heute geschah dies nun schon zum zweiten Mal.
„Ich möchte einfach noch nicht sterben“, antwortete Hilmer. „Es erscheint mir nicht besonders sinnvoll, mich freiwillig den Todesfelsen hinunterzustürzen.“
„Es erscheint dir nicht besonders sinnvoll?“ Helmut sah den Lemming vor sich amüsiert an.
„Mir gefällt mein Leben hier. Das sogenannte gelobte Land habe ich noch nie gesehen. Woher weiß ich, dass dort wirklich alles besser ist? Wer garantiert mir, dass es überhaupt existiert?“
„Du zweifelst also an den heiligen Schriften des furchtlosen Wonibalts“, stellte der König fest. „Hast du denn in der Schule nichts gelernt?“
„Wie kann ich an etwas glauben, dass ich niemals gesehen habe?“, fragte Hilmer.
„Wie meinst du das?“ Einerseits wurde Helmut langsam ungeduldig und hatte keine Lust mehr sich weiterhin