Das Dunkle Bild. Tristan Fiedler
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Tristan Fiedler
Das Dunkle Bild
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Inhaltsverzeichnis
Kapitel 1
Die meisten würden es seltsam finden, dass ich überhaupt keine Reaktion zeigte, als ich es erfuhr. Aber weder Trauer noch sonst eine Emotion schienen es mir wert, an diese Person verschwendet zu werden. Ich spüre noch den harten Sitz unter mir, und ich weiß noch, dass ich mich fragte, warum es eigentlich so schwer ist, bequemere Stühle in dem kargen, fensterlosen Raum aufzustellen, in dem immerhin jeden Tag unzählige Leute wie ich sitzen und warten, während der Arzt mich durchdringend ansah. Er presste ein Clipboard an seine Brust. Dahinter ragte ein Bündel Kulis aus der Brusttasche seines Kittels. „Haben Sie verstanden, was ich gesagt habe?“
Ich nickte nur. Der Arzt räusperte sich und warf einen Blick auf sein Clipboard, als könne er ihm etwas Neues abgewinnen. Meine Reaktion – oder besser gesagt, meine Nicht-Reaktion – schien ihn zu verwirren.
„Wenn Sie wollen, können Sie jetzt zu ihm.“
Ich schüttelte den Kopf. „Mein Vater ist doch tot“, erwiderte ich. „Oder nicht?“
Der Arzt nickte zögerlich.
„Wieso sollte ich dann nochmal zu ihm gehen?“
Der Arzt öffnete den Mund. Doch ich entschloss mich, ihm keine Zeit für eine Antwort zu lassen. Ich ahnte sowieso, was er sagen würde.
Natürlich, jeder muss Abschied nehmen. Und es war sicherlich schwer zu verstehen, warum ich das nicht tun wollte. Aber ich hatte nicht die Absicht, mich zu rechtfertigen. Der Arzt wusste nichts von meinem Vater. Oder mir. Oder der Beziehung, die wir geführt hatten. Außerdem fühlte ich mich von seiner Gegenwart erstickt. Fehlende Distanz zu einem Menschen hat diesen Effekt auf mich. Wenn der andere ein völlig Fremder ist, macht es das nicht unbedingt besser. Und dieser Blick, dieser einfühlsame, mitleidige Blick, war einfach zu viel für mich. Fehlte nur noch, dass er mir die Hand irgendwo auflegte.
„Ich hab es leider eilig“, sagte ich. „Muss ich irgendwas unterschreiben oder so?“ Mein Blick wanderte ruhelos durch den Raum. Hauptsache, ich musste dem Arzt nicht in die Augen sehen.
Im Hintergrund öffnete sich die Tür. Jetzt kam auch noch der Psychologe, der meinen Vater über die letzten Wochen begleitet hatte. Ich spürte, wie mir heiß wurde. Allerhöchste Zeit, hier wegzukommen. Das bedeutete, ich musste mir etwas überlegen, um mich einigermaßen elegant aus der Situation herauszuwinden. Keine leichte Aufgabe. Ich sah auf die Uhr und stammelte etwas von abendlichen Verpflichtungen, von schließenden Geschäften und von der Tagesschau. Der Arzt wirkte nicht überzeugt. Im nächsten Moment schon nahm mich der Psychologe freundlich an der Schulter und bot an, dass wir uns setzten. Ich fuhr wie elektrisiert zusammen. Doch der Psychologe ignorierte das. Mit eiserner Freundlichkeit im Blick drückte er mich zurück auf den Stuhl. Jetzt reichte es mir. Ich sprang auf, riss mich los und verließ eiligen Schrittes den Raum. Ich spürte die verdatterten Blicke im Rücken, doch es war mir egal.
Ich muss dazu sagen: Der Tod meines Vaters war abzusehen gewesen. Die letzten Monate hatte er nur noch im Bett gelegen und war wortwörtlich dahin gesiecht. Der Tumor in seinem Kopf muss außerdem Stellen seines Gehirns geschädigt haben. Er war in den letzten Tagen, die er noch zu Hause verbrachte, unerträglich geworden. Meine Aufgabe bestand darin, mich seinen Beschimpfungen auszusetzen und ihm – im schlimmsten Fall gleichzeitig – bei den unumgänglichen Pflichten beizustehen. Insofern kann ich sagen: Sein Tod war weniger ein Schock als mehr eine Erleichterung für mich.
Mein Vater muss geahnt haben, dass er aus dieser Operation nicht wieder lebend zurückkommen würde. Das merkte ich, als ich seine Sachen für ihn packte. Er lag zuerst wie leblos in seinem Bett. Dann packte er meinen Arm und zog mich zu sich herab. Mit undeutlichen Worten versuchte er, mir etwas mitzuteilen.