Das Dunkle Bild. Tristan Fiedler
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„Wie?“ Der Konservator sah mich an.
„Na ja...“ Ich überlegte, wie ich meine Frage in Worte kleiden konnte, ohne merkwürdig zu wirken. „Gibt es vielleicht Farben, die man nur bei Tageslicht sieht? Oder nur in bestimmten... Zeitintervallen?“
Der Konservator blickte verständnislos drein.
„Es ist so“, erklärte ich. „Ich hab das Gefühl, abends oder nachts immer etwas auf dem Bild zu sehen, das man jetzt nicht sieht.“
Der ältere Mann schüttelte langsam den Kopf. „Nein, so etwas gibt es nicht. Es gibt fluoreszierende Farbstoffe, die man mit dem bloßen Auge nicht sieht. Die können zum Beispiel durch UV-Strahlung angeregt werden. Die emittieren dann sichtbares Licht und scheinen zu leuchten. Lumineszenz heißt das oder auch kaltes Leuchten. Aber das lässt meistens schon nach nicht mal einer Sekunde nach. Anders ist es bei der Phosphoreszenz -“
„Das meinte ich nicht“, unterbrach ich den Alten unwirsch. Er sah mich leicht beleidigt an, doch ich ignorierte das. Ich überlegte, wie ich weiter vorgehen sollte. „Gibt es denn irgendeine Möglichkeit, herauszufinden, wo das Bild gemalt wurde?“ fragte ich schließlich.
„Wo es gemalt wurde?“
„Ja. Ich wüsste gerne, von wem das Bild stammt. Da es keine Signatur gibt, dachte ich, ich käme vielleicht weiter, wenn ich wüsste, wo das Bild herkommt.“
Der Konservator schüttelte wieder den Kopf. „Wenn das Bild älter wäre, würde es gehen. Dann könnte uns der Stil etwas sagen. Viele Bilder kann man auf Epochen datieren, in denen es gewisse künstlerische und stilistische Bewegungen gab. Aber die liegen über hundert Jahre zurück. Heute sieht ja alles irgendwie aus oder ahmt nur irgendwas nach. Nicht wie zu Zeiten, als ein Stil noch ein Ausdruck war -“
Die Stimme des Konservators verklang in meinen Ohren. Ich war enttäuscht. Ich hatte gehofft, hier vielleicht einen Schritt weiterzukommen bei der Suche nach der Bedeutung dieses Bildes. Jetzt hatte ich keine Ahnung, wie ich weitermachen sollte. Aber dann merkte ich, dass der Alte in seinem Referat inne gehalten hatte und auf einmal zu grinsen begann.
„Was ist denn so lustig?“
„Na ja“, sagte er. „Ich hab gesagt, mit meinen Mitteln hier ist der Ursprungsort nicht zu finden.“ Er deutete auf das Bild. „Aber es gibt auch andere Wege. Hier, sehen Sie!“
Mein Blick folgte seinem Zeigefinger zu einer Stelle auf dem Bild. Sie lag hinter dem großen Gebäude in der Dunkelheit.
„Was ist dort?“ fragte ich.
„Es ist nur schwer zu erkennen“, erklärte der Konservator. „Das Bild ist hauptsächlich in dunklen Tönen und nicht gerade sehr kontrastreich gehalten. Aber dieser Berg da, den kenne ich.“
Erst jetzt erkannte ich in einem der dunklen Schemen hinter dem großen Haus einen Berg, der sich schwach von dem dunklen Nachthimmel abhob.
„Sie kennen den Berg?“
„Ja. Das ist der höchste Berg der Sudeten. Die Schneekoppe.“
Ich sah den alten Mann an. „Die Schneekoppe?“
„Ja. Hier, ganz schwach erkennt man zwei Erhebungen auf der Bergspitze. Das soll wahrscheinlich das Observatorium sein. Na ja, hier verlieren sich die Details.“
„Sind Sie sich sicher?“
„Nein, sicher bin ich mir nicht. Ich meine, das hier ist Dunkelgrau auf Schwarz. Aber was zu erkennen ist, das sieht genauso aus wie der Berg, wo ich mit meiner Frau immer zum Skifahren hingehe. Seit meinem vierzigsten Geburtstag machen wir das jeden Januar. Bisher waren immer unsere Nachbarn mit, die Sundmachers, aber er hatte jetzt Nierensteine und -“
„Dankeschön!“ unterbrach ich und überlegte. „Das heißt, wenn das da die Schneekoppe ist...“
„...dann ist das Motiv irgendwo am Riesengebirge“, vollendete der Alte meinen Satz. „Wahrscheinlich in Tschechien.“
Bei der Erwähnung von Tschechien horchte ich auf. Mein Vater war in der Tschechoslowakei aufgewachsen, soweit ich wusste. Er kam aus einem kleinen deutschstämmigen Dorf, an dessen Namen ich mich nicht mehr erinnerte. Ich wusste, dass mein Vater irgendwann mit meiner Mutter nach Westeuropa gezogen war. Über seine Jugend wusste ich kaum etwas.
„Tschechien?“ wiederholte ich.
„Ja, wahrscheinlich. Viel weiter kann ich Ihnen leider nicht helfen. Tut mir leid.“
Ich nickte geistesabwesend und machte mich ans Gehen, bevor ich von einem neu anschwellenden Redefluss überschwemmt werden konnte. Das Treffen war enttäuschend gewesen. Aber womöglich reichte mir die spärliche Information, die ich bekommen hatte, ja schon aus.
Ich nahm das Bild an mich und fuhr zurück nach Hause, wo ich es erstmal wieder im Keller einschloss. Dann machte ich mich an die Durchsuchung der Kartons, die noch in meinem Flur standen.
Als ich die erste Kiste aufklappte, wurde mir bewusst, was ich mir da vorgenommen hatte. Der Karton war vollgestopft mit Aktenordnern und zusammengebundenen Papierstapeln, die von Unterlagen und Formularen nur so strotzten. Nur einen dieser Ordner durchzugehen würde Stunden dauern. Und ich hatte sechs weitere Kartons in meinem Flur stehen.
Ärgerlich leerte ich die Kiste auf dem Boden aus. Dann schob ich den Haufen an Unterlagen auseinander, so dass ich bald einen Überblick über alles bekam, was sich in dem Karton befunden hatte. Ich hoffte, auf diese Weise vielleicht einen Hinweis zu finden, ohne die Ordner durchsuchen oder die Papierstapel aufbinden zu müssen.
Ich ließ meinen Blick langsam über das Chaos wandern. Ein riesiger Haufen Papier – das blieb also übrig, wenn ein Mensch starb. Die letzten Zeugen und Beweise eines Menschenlebens befanden sich zwischen Aktendeckeln oder wurden von Paketschnüren zusammengehalten. Und das meiste davon würde sowieso auf dem Müll landen. Ein frustrierender Gedanke. Würde es bei mir auch irgendwann mal so aussehen? Würde nach meinem Ableben auch irgendjemand all die Unterlagen, die ich notgedrungen sammeln musste, fluchend in Kartons herumschleppen, um sie dann auf den Müll zu schmeißen? Wahrscheinlich schon. Aber wer? Ich war der letzte aus meiner Familie. Bei mir würde es wahrscheinlich irgendein Beamter sein. Irgendjemand, der meinen Namen auf einem der Ordner las – und am nächsten Tag schon wieder vergessen hatte.
In diesem Moment fiel mir etwas ins Auge. Es waren mehrere kleine Gegenstände, die unter einem Aktenordner hervorlugten. Ich bückte mich und zog sie hervor. Es waren abgelaufene Reisepässe. Zwei davon stammten aus der ehemaligen Tschechoslowakei. Ich klappte den obersten auf. Er war im Jahr 1959 ausgestellt worden und gab einen Ort namens Byscovice als Wohnort meines Vaters an. Volltreffer. Das war der Name des Dorfes, von dem mein Vater einmal erzählt hatte. Das Datum konnte ungefähr mit der Entstehungszeit des Bildes zusammenfallen.
Was genau ich jetzt mit dieser Information anfangen sollte, wusste ich selbst nicht. Doch der Gedanke an dieses Bild, das unten in meinem Keller stand und wahrscheinlich viele Jahre bei meinem Vater in einem versteckten Raum geruht hatte, ließ mich nicht los. Und den ersten Hinweis auf seine Herkunft hielt ich jetzt in der Hand.
Ich griff zum Telefon und wählte die Nummer meines Chefs.
Als ahnte er mein Vorhaben, kam Ben zu mir und