Nachtschwärmer Online. Jules van der Ley
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Kommst du wieder mit morgen Nacht?
Dann kriegen wir jetzt den Dreh. Sagen uns Tschüs und gute Nacht, ein trockener Kuss geht hin und her. Deine Lippen sind kalt. Fühlt sich trotzdem gut an.
Mindestens so gut, dass man davon träumen kann.
Gute Nacht, meine Liebe
E-Lok oder Bernzieh
Unsere Strecke, das muss ich jetzt einmal sagen, ist natürlich nicht immer frei. Es kommen uns manchmal Güterzüge entgegen. Wir können von Glück sagen, wenn es nicht gerade im Tunnel passiert. Dann würde es sehr laut oder schrecklich laut, je nachdem. Die deutschen Loks sind nur laut, sie fahren mit Strom. Doch im Tunnel endet die Oberleitung. Also fahren die deutschen E-Loks wieder zurück, nachdem sie den donnernden, fauchenden belgischen Dieselloks geholfen haben, den Anstieg zu nehmen.
Übrigens, E-Lok: Der „Allgemeine Deutsche Sprachverein“, der sich heute „Gesellschaft für Deutsche Sprache“ nennt, war zu Beginn der nationalsozialistischen Herrschaft ganz wild darauf, die deutsche Sprache zu reinigen. Sie haben Fremdwörter gejagt wie die Irren. „Elektrizität“ sollte „Bern“ heißen. Nach Bernstein, der ja elektrisch wird, wenn man ihn an Wolle reibt. Jedenfalls hieß die E-Lok nach ihrem Willen eine Weile „Bernzieh“. Und aus dem „Apotheker“ machten sie: „Gesundheitswiederherstellungsmittelzusammenmischungsverhältniskundiger“.
Das ist meines Wissens das längste Wort der deutschen Sprache. Vielleicht steht es in einem alten Duden? Es könnte aber auch von Turnvater Jahn stammen. Der hat im 19. Jahrhundert Fremdwörter gejagt. Ist ja auch irgendwie Sport.
Bist du eigentlich warm genug angezogen? Nicht, dass ich am Ende noch am Nachtschalter ein Gesundheitswiederherstellungsmittel besorgen muss.
Wir steigen wieder die Böschung zum Gleiskörper hinab. Hier ist es rutschig von unseren Füßen gestern. Pass gut auf deine Füße auf, Pflaster habe ich nicht.
Kein Zug zu sehen? Dann rasch über die Gleise!
Kennst du den Witz, als Tünnes den Scheel trifft, der auf Socken über ein Bahngleis läuft?
Ist aber ein Sparwitz, halt dich fest! Nicht an mir, sonst rutsche ich auch.
Scheel fragt den Tünnes: Warum läufst du auf Socken?“
Tünnes sagt: „Hier steht es doch: G(e)leise nach Köln!“
Die Klammern habe ich gesetzt, falls du zu müde bist, den Witz zu verstehen. Lach nicht, das ist ernst.
Also, da vorne steht die Draisine. Rauf mit uns, wir fahren sofort los! 15 Minuten nach uns startet vom Westbahnhof ein langer Güterzug. Bringt Autos von Köln über Aachen nach Belgien. Dann sind wir schon weg. Wir sitzen gut, du bist eingepackt, lehnst dich irgendwo an. Bei mir oder nicht, das musst du entscheiden. Hauptsache wir sitzen beide bequem.
Den Anstieg hoch, in die gemauerte Brücke hinein, Eisen auf Eisen rollt sich ab. Du winkst mal nach unten den Leuten zu, gleich an der Straße, wo wir das Schindeldach sehen. Wir rollen durchs Grün, bei mir entlang...
... doch wir sausen vorbei, wir wollen was erleben.
Wir werden sehr schnell, denn wir halten jetzt nicht, damit wir heute den altbelgischen Ort Moresnet erreichen.
Da ist auch schon der Friedhof. Er schreckt uns heute nicht, wir haben ja schon gestern einmal gezuckt. Das langt für die nächsten Wochen.
Herr Oberbürgermeister, Sie sind noch auf, dort oben in Ihrem schönen Neubau? Was wird denn heute Nacht noch so regiert? Ehrlich gesagt, wir wollen es nicht wissen. Denn wir haben gestern nicht richtig geguckt. Im Tal vor dem Drielandenpunt gibt es eigentlich eine schöne Landschaft zu sehen. Wenn es heller wäre jedenfalls. Die Lichter der Bauernhöfe reichen nicht weit. Ein paar Stallungen sehen wir noch, das fahle Mondlicht auf den Wiesen. Zu unserer Linken ahnst du den Saum des Stadtwaldes. Dort oben bin ich oft schon gegangen. Man sieht ins weite Tal hinab und kann mit den Augen den Gleisen folgen, bis sie dann im Gemmenicher Tunnel verschwinden. Der Name Gemmenich leitet sich vermutlich von Gemme ab, einem alten Wort für Edelstein. Man hat nämlich in der Gegend Galmei gefunden, ein Mineral für die Zink- und Messingherstellung.
In der Mitte der Tunnelröhre verläuft die Grenze zwischen Deutschland und Belgien. Da hört wie gesagt die Elektrifizierung auf. Die belgische Eisenbahn arbeitet schon Jahrzehnte mit „Hochdruck“ daran, ein kurzes Stück fehlender Elektrifizierung zu schließen. Das muss man verstehen. Belgien hat drei Kulturen, die Deutschsprachige Gemeinschaft, die Wallonische und die Flämische. Alles muss in drei Landessprachen verhandelt, beschlossen und dokumentiert werden. Der Gemmenicher Tunnel führt ins alte Neutral-Moresnet, ein von 1816 bis 1919 bestehendes, etwa vier Quadratkilometer großes neutrales Territorium zwischen dem Vereinigten Königreich der Niederlande, dem Königreich Belgien und dem Königreich Preußen Ab 1907 gab es eine Gruppe Esperanto-Anhänger. Sie wollten aus Neutral-Moresnet einen Esperanto-Staat mit Namen Amikejo bilden. Amikejo ist Esperato und bedeutet „Ort der Freunde“. Der Chefarzt der Erzgrube, Wilhelm Molly, wollte in Neutral-Moresnet den ersten Esperanto-Staat der Welt ausrufen.
Einmal musste sogar der Thalys durch den Gemmenicher Tunnel fahren, weil der Aachener Buschtunnel kurzzeitig gesperrt war. Ich hörte ihn, derweil ich am Rechner saß. Sein Geräusch ist unverkennbar. Daher schaute ich zu meinem Erkerfenster hinaus, sah den Thalys vorbeiziehen und habe mich gewundert, dass dieser französische Hochgeschwindigkeitszug auf dem Gleis beliebt zu fahren, auf dem auch unsere Draisine fährt.
Was meinst du, sollen wir halten? Es ist besser, wir lassen zuerst die Diesellok passieren, damit sie uns nicht im Tunnel erwischt. Inzwischen erzähle ich dir etwa über den Dreiländerpunkt.
Man kann dort oben um eine kurze Säule laufen, dann ist man in Deutschland, in den Niederlanden und in Belgien in einem Rund. Die Reihenfolge gilt natürlich nur, wenn du links herum läufst.
Die Belgier wie die Niederländer haben auf dem Dreiländerpunkt Andenkenbuden. Auch zwei Aussichtstürme gibt es. Der belgische ist gleich hier über uns, der niederländische weiter nördlich.
Es gibt auch ein ziemlich weitläufiges Heckenlabyrinth, da aber im Winterhalbjahr geschlossen hat. Im Sommer schießen aus den Wegen Wasserstrahlen auf. Das wollte man bei diesen Temperaturen nicht haben.
Der Drielandenpunt ist der höchste Berg der Niederlande. Auf diesen Berg sind die Holländer stolz. Touristenströme im Sommer, ganze Busladungen von Menschen, Fotos am Drielandenpunt, Hütchen aus dem Büdchen, das ganze Programm.
Doch in einem Sommer haben die Gemeinderäte von Vaals ein Stück des Berges an die Jünger des Mahareshi Yogi verkauft. Da weißt schon, das sind die von der Transzendentalen Meditation. Sie wollen auf dem Drielandenpunt ein Zentrum, einen Tempel errichten, um die Welt zu missionieren, quasi zu erlösen. Der Platz sei ideal, sagen sie, weil die Niederländer inzwischen ein friedliches Volk sind. Man hat also passender Weise einen Irrgarten gekauft. Übrigens hat es zum Auftakt der weltweiten Menschenverirrung auf dem Drielandenpunt eine Elefantenprozession gegeben. Religion braucht Brimborium.
Ja, guck