Nachtschwärmer Online. Jules van der Ley
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Hier war einmal ein großer Güterbahnhof. Jetzt siehst du kaum noch einen Menschen. Irgendwie macht mich das traurig. So ein großer Bahnhof und keine Menschen von der Eisenbahn.
Ja, du guckst mich an? Ich bin nicht von der Eisenbahn. Ich komme vom Teppichhaus. Und das Teppichhaus hat nur eine Nachtdraisine. Wenn ich ne Eisenbahn hätte, sähe es in Deutschland anders aus.
Schon nach zehn. Und wir sind noch kein Stück gefahren. Du merkst, ich bin heute nicht so frisch. Weißt, was wir machen? Wir fahren einfach. Setz dich! Los, rauf auf das Ding!
Sitzt du gut? Ich spring hinterher. Und schon rollt es los, unser Zaubergefährt. Wir gucken nicht auf die Uhr. Die Räder der Draisine geben uns den Takt. Schon geht der Fahrtwind, ich muss rufen. He, das geht jetzt schnell! Und jetzt kommt etwas Komisches. Wir fahren einen Hügel hinauf. Den braucht man, um die Waggons zu sortieren. Sie rollen dann vom Hügel hinab, und irgendwo hinten im Stellwerk sitzt einer und stellt die Weichen. Ne, der ist jetzt zu Hause. Die Lampen scheinen für nichts. Außer uns sieht das hier keiner. Ist auch kurios, findest du nicht?
So, jetzt aber den Hügel hoch gebraust. Halt dich fest an mir, sonst hebst du ab! Denn nach der Kuppe geht es wieder hinab. Das ist so ein bisschen wie eine sanfte Achterbahn.
Sanfte Achterbahnen finde ich gut. Wenn das Leben wie eine sanfte Achterbahn verläuft, kann man sich freuen. Dann ist zwar immer was los, doch man hebt nicht vom Teppich ab und man fällt auch nicht in den Keller.
Sag mal, du merkst es, weit kommen wir nicht. Ich gebe mir ja wirklich redliche Mühe. Trotzdem reicht es nicht für eine lange Geradeausfahrt. Immerhin haben wir ein bisschen gespielt. Wir waren wie Güterwaggons unterwegs, wenn sie sortiert werden. Das ist wirklich ein guter Trick. Wenn man zu angespannt ist, hilft das absichtslose Spiel.
Du, meine Liebe, ich danke dir sehr. Du warst mir heute eine gute Freundin. Komm, wir steigen ab, und ich bringe dich bis an die Tür. Das bin ich dir schuldig, weil wir nicht so weit gefahren sind.
Kommst du trotzdem morgen wieder mit?
Ich würde mich freuen.
Gute Nacht, meine Liebe. Und hier der trockene Kuss.
Auf dem Salvatorberg
Hörst du, wie die Orgel braust?
Wir befinden uns auf dem Salvatorberg. Versteckt zwischen Büschen und Bäumen steht die Salvatorkirche. Es ist auch ein Kloster nebenan. Das Licht, das du manchmal zwischen den Zweigen siehst, ist die Laterne, die über dem Eingang der kleinen Kirche baumelt
Was ist es nur an den brausenden Orgelklängen, das einen so erfasst und eine ganze Weile nicht loslassen will? Kürzlich habe ich es schon einmal erlebt. Ich kam vom Lousberg herunter, und da brauste plötzlich eine Orgel. Es steht keine Kirche dort, und ich fragte mich, wo es herkam. Dann fand ich eine Toreinfahrt. Ich trat auf einen großen quadratischen Innenhof. Schmucke Gebäude ringsum. Eine Akademie oder so?
Woher die Orgel brauste?
Ich kam nicht hinein, die geschnitzte Tür war verschlossen. Auf einem Schild sah ich, dass man dort Kirchenmusik lehrt.
Es ist etwas an den Religionen, was alle berührt. Die Gnade, an einen bestimmten Gott zu glauben, habe ich nicht. Doch welche Rituale ein Glaube hat, welche Ideen hinter einem Glauben stecken, was ein Glaube für Menschen bedeutet, - das interessiert einen Agnostiker wie mich. Denn an eine Weltordnung und an etwas Größeres als den Menschen glaube ich wohl.
Komm, wir nehmen diesen Pfad durch die Büsche zur Salvatorkirche. Sieh dich vor, dass du im Dunkeln nicht stolperst.
Die wenigen Stufen steigen wir hinan, - und auf mit dem Portal! Wir wollen die Orgel hören, wir wollen, dass ihr Brausen unsere Herzen erhebt!
„Wir hören eine Weile zu, - danach raune ich dir das Weitere ins Ohr, gut?“
Ach, komm, wir treten ein wenig zurück in den Vorraum. Du wirst mich sonst nicht hören. Du bist weit weg, die Musik hat dich erfasst. Das Brausen der Orgel ist durch dich hindurch gegangen.
Hallo, bist du da?
Gut, dann stell dir doch einmal vor, in den Bankreihen des Kirchenschiffes säßen fromme Mönche. Es sind Benediktiner, sie sind besonders streng mit sich.
Und nun haben sie sich hier versammelt, um eine Nachtmesse zu feiern. Ein jeder hat eine kleine Kerze auf seinen Daumennagel geklebt. Die Mönche murmeln und singen die Sprache der Engel, also Latein. Hast du schon einmal Latein gesprochen? Und? Wie fühlt es sich an, die Sprache der Engel zu sprechen?
Fremd? Leider kann ich kein Latein, und trotzdem habe ich als Kind Latein gesprochen.
Es ist unlogisch? Ja, so mag es klingen. Doch genau das ist es, - ich weiß nur, wie Latein zu klingen hat. Als Kind war ich Messdiener. Es war zur Zeit der Alten Liturgie, das heißt, die Messe wurde auf Latein gehalten. Keiner der älteren Messdiener konnte Latein. Es waren Bauernsöhne, und hast du schon einmal eine Kuh auf Latein aus dem Stall getrieben? Die würde sich wundern.
Also, die älteren Messdiener lernten die Neulinge an. Mir sagten sie auswendig das Confiteor auf. Sie hatten es selber so gelernt, durch mündliche Überlieferung. Und gewiss gab es in dieser mündlichen Überlieferung den „Stille-Post-Effekt“.
Was bei mir ankam aus der Vergangenheit von den Vorvorgängern, die während der Messe einst gedient hatten, was ich also von Maul zu Ohr zu Maul zu hören bekam, war zweifellos kein reines Latein. Manchmal sah uns der Pastor strafend an, wenn wir es all zu doll trieben und statt der gelernten Worte „Rhabarber - Rhabarber“ gebrabbelt haben …
Doch es hat mich jedes Mal erfasst. Wenn ich sorgfältig das Confiteor aufsagte, dann wusste ich, dass ich etwas Besonderes spreche. So geheim und so verschlossen für einen wie mich. Reiner Klang, nur vage geahnter Inhalt, das musste die Sprache der Engel sein. Und sie kam wie Wasser aus meinem Mund.
Die Mönche! Wir sehen auf ihre gebeugten Rücken. Gleich werden sie sich im Gleichmaß erheben. Hast du dich schon einmal im Gleichmaß mit anderen Menschen erhoben? Es ist anders, als würdest du jetzt allein von deinem Sitz aufstehen, nicht wahr?
Sie erheben sich, und mit mächtigem Auftakt schlägt die Orgel an. Sie sind nicht zusammengezuckt wie du und ich. Nein, sie haben den Auftakt gemeinsam erwartet. Sie stehen Seit an Seit, Hintermann an Vordermann.
Da, es atmet ein. Das Ich der Mönche hebt an zu singen. Und jeder ist für diesen Augenblick eins mit seinem Nächsten. Welch ein erhebendes Gefühl muss das sein, mit Inbrunst die Sprache der Engel zu singen. Zu tönen, wenn der Nachbar tönt, zu atmen, wenn auch er es tut. Welch ein Ton, welch ein Klang erfüllt das kleine Kirchenschiff!
Jetzt der Schlussakkord der Orgel – sie schweigen. Knien nieder und falten die Hände zum Gebet. Und nun ertönt das gemeinsame Raunen. Es ist gewiss älter als die Musik. Es stammt aus den Äonen der Vergangenheit, kam weit herauf von den ersten Menschen zu uns.
Nächtens haben sie beim Feuer gesessen, haben sich in der Hütte ums Feuer versammelt, die schreckliche Dunkelheit der Nacht auszuschließen. Dort ist die Wand, und dahinter ist Finsternis. Hoch ragt der Wald um die kleine Lichtung.
Im Schutz der Hütte sitzt auch du, siehst den Nachbarn kaum,