Chinesische Lebensweisheit. Richard Wilhelm

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Chinesische Lebensweisheit - Richard Wilhelm

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praktischen Lebensweisheit zu. Sie hatten weltverachtende Grundsätze und sahen, daß man nichts machen könne, um die Welt zu verbessern. Warum also sollte man an solche fruchtlosen Gedanken seine besten Kräfte setzen? Noch hatte man ja die Genußfähigkeit. Noch hatte man den Wein, den Sorgenlöser, und noch konnte man singen und so seinem Herzen Luft machen. Wozu also den grauen Ernst? Iß und trink und sei guter Dinge. Ganz wie es im Prediger Salomonis heißt: „So gehe hin und iß dein Brot mit Freuden, trink deinen Wein mit gutem Mut. Laß deine Kleider immer weiß sein und laß deinem Haupt Salbe nicht mangeln. Brauche das Leben mit deinem Weibe, das du lieb hast, solange du das eitle Leben hast, das dir Gott unter der Sonne gegeben hat ... Alles was dir von Händen kommt, zu tun, das tue frisch; denn bei den Toten, dahin du fährst, ist weder Wort, Kunst, Vernunft noch Weisheit.“

      Es gab aber endlich auch Leute, die gegenüber den finstern Zeitverhältnissen und einer verrotteten Gesellschaft nicht gewillt waren, gesenkten Hauptes sich in all das Unrecht freiwillig zu fügen, sondern ihrer Unzufriedenheit im Liede Luft machten. Und manchmal auch kam es vor, daß, wenn solche Stimmungen sich erst in der Tiefe angehäuft, gelegentlich ein Ausbruch kam, der oft ganz unerwartet einem Tyrannen und Volksbedrücker das Leben kostete.

      Aus dieser Not der Zeit heraus ist nun die chinesische Lebensweisheit geboren worden. Am königlichen Hofe lebte ein Mann. Er ist bekannt unter dem Namen Lautse („alter Meister“). Man wußte wenig von ihm, er war beschäftigt an der königlichen Bibliothek. Und unter der Beschäftigung mit den vielen Bambustafeln, auf denen die Reste der Literatur des Altertums verzeichnet waren, ist ihm die große Erleuchtung gekommen. Er fand nicht seine Befriedigung im Lesen und Lernen, im Nachdenken, was andere zuvor gedacht. Er hatte aber auch keine Lust zu wirken und sich einen Namen zu machen. Wohl überschaute er mit souveränem Blick die Reiche der Welt. Er sah, woran es ihnen fehlte, und sah auch wohl die Mittel, wie zu helfen wäre. Aber er wußte auch, daß seine Ratschläge unzeitgemäß waren und daß nicht damit zu rechnen war, daß so bald ein Fürst sich finden werde, der seinen Paradoxien Gehör schenken würde. So verzeichnete er denn seine Gedanken – oft in Form von Knittelversen, wie sie im Altertum zur Unterstützung des Gedächtnisses üblich waren – auf, ganz zwanglose Aphorismen, wie sie das Erlebnis brachte. Auch hier war er nicht auf Stil und Feinheit des Ausdrucks bedacht. Höchstens, daß es ihm Spaß machte, alles möglichst scharf und prägnant auszudrücken und alle vorsichtigen Wenn und Aber beiseite zu lassen. Auf Wirkung verzichtete er. Eigentlich ist es fast eine Inkonsequenz von ihm gewesen, daß er diese Selbstgespräche überhaupt aufgezeichnet hat. Die Sage empfand das auch und berichtet von einem Anlaß für diese Aufzeichnungen. Als er nämlich die Welt verließ und durch den Hangu-Paß nach Westen auf Nimmerwiedersehen verschwand, da habe ihn der Torwächter gebeten, ihm seine Weisheitssprüche aufzuschreiben. So habe er ihm als Gastgeschenk das Büchlein dagelassen, das heute unter dem Namen Taoteking bekannt ist. Das geheimnisvolle Verschwinden des Alten ist aber nur Sage. Noch Dschuangdsї wußte von dem Ende des Lautse zu erzählen, und in dieser Geschichte wird auch ein rührender Zug erwähnt. Als er nämlich gestorben war, da hätten alle Anwesenden, alt und jung, untröstlich geweint. Daraus wird ihm ein Vorwurf gemacht. Er müsse Worte gesprochen haben, die er nicht hätte sprechen sollen, und Dinge getan haben, die er nicht hätte tun dürfen. Sonst hätte er nicht diese menschliche Anhänglichkeit und Trauer über seinen Tod bewirken können. So sehen wir hinter dem radikalen Eifer gegen die Mißstände der Zeit ein gütiges, menschlich fühlendes Herz.

      Seine politische Lebensweisheit war radikal genug, und manches davon behält seine Gültigkeit, auch nachdem die Zeiten, für die es geschrieben, längst vorüber sind. Man vergleiche Sätze wie den: „Das Volk hungert; das kommt daher, daß seine Oberen zu viel Steuern fressen: darum hungert es. Das Volk ist schwer zu lenken; das kommt daher, daß seine Oberen immer etwas machen wollen: darum ist es schwer zu lenken. Das Volk nimmt den Tod zu leicht; das kommt daher, daß man des Lebens Fülle zu reichlich sucht: darum nimmt es den Tod zu leicht.“

      „Je mehr man die Religion pflegt, desto ärmer wird das Volk. Je mehr das Volk Mittel zum Gewinn hat, desto unklarer wird der Staat. Je mehr die Menschen Künste üben, desto mehr entstehen fremdartige Dinge. Je mehr Gesetze und Verordnungen sich breit machen, desto mehr gibt es Diebe und Räuber.“

      „Des Himmels Sinn ist es, zu nehmen von dem, was zu viel hat, und damit zu helfen dem, was zu wenig hat. Der Menschen Sinn ist nicht also: sie nehmen von denen, die zu wenig haben, um zu bereichern die, so zu viel haben.“

      „Wo Heere weilen, wachsen Dornen.

      Auf große Feldzüge folgen Hungerjahre.“

      „Tut die Heiligkeit ab und verwerft die Weisheit:

      Das ist dem Volk hundertfacher Gewinn.

      Tut die Menschenliebe ab und verwerft die Pflicht:

      Dann kehrt das Volk zurück zu Ehrfurcht und Gefühl.

      Tut die Technik ab und verwerft den Gewinn:

      Dann gibt es keine Diebe und Räuber mehr.“

      Ein sehr guter Ratschlag für die Staatsregierung ist auch folgender:

      „Ein großes Reich muß man lenken, wie man kleine Fischlein brät.“

      Hierzu bemerkt ein chinesischer Kommentar sehr treffend: Wenn man kleine Fischlein brät, so nimmt man sie nicht aus, schuppt sie nicht ab und wagt sie nicht zu schütteln, damit sie nicht in Stücke gehen.

      So gibt er den Regierenden den guten Rat, möglichst wenig zu regieren, dann werde sich schon alles von selber machen:

      „Wenn wir nichts machen,

      So wandelt sich von selbst das Volk.

      Wenn wir die Stille lieben,

      So wird das Volk von selber recht.

      Wenn wir nichts unternehmen,

      So wird das Volk von selber reich.

      Wenn wir keine Begierden haben,

      So wird das Volk von selber einfältig.

      Wessen Regierung demütig und sanft ist,

      Dessen Volk ist harmlos und einfach.

      Wessen Regierung stramm und genau ist,

      Dessen Volk ist hinterlistig und versagt.“

      Bezeichnend ist auch die Wertschätzung der Herrscher und ihre Stufenfolge:

      „Herrscht ein ganz Großer,

      So weiß man unten kaum, daß er da ist.

      Die nächste Stufe

      Wird geliebt und gelobt.

      Die nächste Stufe

      Wird gefürchtet:

      Die nächste Stufe

      Wird verlacht.“

      Aber diese Regierungsgrundsätze allein würden die Bedeutung des Lautse noch nicht erklären. Er ging tiefer und grub nach dem Sinn des Lebens. Man spricht gewöhnlich von zwei Grundideen, die in seinem Werkchen behandelt werden: Tao und Te. Die beiden Worte sind nicht leicht zu übersetzen, und es scheint zudem ein gewisser Ehrgeiz unter den Übersetzern zu bestehen, ja nicht den Spuren eines Vorgängers zu folgen, was um so nötiger ist, da die überwiegende Mehrzahl dieser Übersetzungen nicht aus dem Chinesischen stammt, sondern

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