Chinesische Lebensweisheit. Richard Wilhelm

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Chinesische Lebensweisheit - Richard Wilhelm

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heißt mit Namen das Luftige.

      Man horcht nach ihm und hört es nicht,

      das heißt mit Namen: das Dünne.

      Man greift nach ihm und faßt es nicht,

      das heißt mit Namen: das Unkörperliche.

      Diese drei lassen sich nicht auseinanderhalten,

      So sind sie durcheinander und bilden eins.

      Sein Oben ist nicht heller,

      Sein Unten ist nicht dunkler,

      Ununterbrochen zieht es sich hin,

      So daß man es nicht benennen kann.

      Er kehrt wieder zurück ins Nichtdingliche:

      Das heißt die gestaltlose Gestalt,

      Das dinglose Bild,

      Das heißt das Neblig-Verschwommene.

      Ihm entgegentretend sieht man nicht sein Antlitz,

      ihm folgend sieht man nicht seinen Rücken.

      Es handelt sich also um eine Konzeption, die auf der Grenze der Welt der Erscheinungen liegt. Sie ist jenseits der Erscheinungen, die die sinnlich-wirkliche Welt konstituieren, sie ist unsichtbar, unhörbar, untastbar. Aber die Qualitäten der sinnlichen Wahrnehmbarkeit sind keimartig doch schon in ihr angelegt, obwohl alles Räumliche: oben und unten, vorn und hinten, rechts und links in der Ununterschiedenheit aufgehoben ist. Diese Keime nun deuten auf etwas, das erstens irgendwie der Sichtbarkeit entspricht, etwas Bildartiges – man ist hier unwillkürlich versucht, an die platonischen Ideen zu denken –, zweitens irgendwie der Hörbarkeit entspricht, etwas Wortartiges – man könnte hierbei an den λóγοϛ denken –, drittens irgendwie der Ausgedehntheit entspricht, etwas Gestaltartiges. Aber dieses Dreifache ist nicht deutlich geschieden und definierbar, sondern ist eine unräumliche (kein Oben und Unten) und unzeitliche Einheit (kein Vorn und Hinten). Um zu verstehen, wie das gemeint sein kann, muß man sich daran erinnern, daß z. B. Mozart erzählt, daß manche Musikstücke ihm einheitlich und gleichzeitig vor dem inneren Sinn gestanden haben – eine künstlerische Intuition, die auch sonst ihre Parallelen hat. Daher kann man es nicht benennen, es ist gestaltlose Gestalt und dingloses Bild.

      Immerhin handelt es sich nach der Auffassung des Lautse um eine innere Stufenfolge, um eine Annäherung an das Wirkliche: vom Bild durch den Namen zur Gestalt. So heißt es an einer andern Stelle:

      Der SINN bewirkt die Dinge

      Ganz neblig, ganz verschwommen.

      So verschwommen, so neblig

      Sind in ihm Bilder,

      So neblig, so verschwommen

      Sind in ihm Dinge!

      So innerlich, so dunkel

      Sind in ihm Samen!

      Diese Samen sind ganz wahr,

      In ihnen ist Zuverlässigkeit.

      Von alters bis heute

      Verschwinden nicht diese Namen,

      Mit denen alle Wesen benannt werden können;

      Denn woher weiß ich denn, daß alle Wesen so sind (wie sie sind)?

      Eben durch sie –

      Hier wird ganz deutlich der Prozeß angedeutet, der zur Verwirklichung führt. Erst heißt es:

      So verschwommen, so neblig

      Sind in ihm Bilder!

      Dann kommt der Umschlag:

      So neblig, so verschwommen

      Sind in ihm Dinge!

      Nachdem so – wenn auch übersinnliche – Dinge vorhanden sind, entsteht das Problem des Erkennens. Der Grund, warum man nach Lautse die Dinge erkennen kann, ist, daß jedes Ding innerlich, samenartige, essentielle Qualitäten hat, die das eigentliche, innerste Wesen des Dinges mit zuverlässiger Deutlichkeit repräsentieren. Darum heißt es:

      Diese Samen sind ganz wahr,

      In ihnen ist Zuverlässigkeit ...

      Diese Eigenschaften der Dinge, wie z. B. die Kälte und die weiße Farbe des Schnees, sind durchaus zuverlässige Wirklichkeiten für das Erkennen. Diese Wirklichkeiten sind befaßt in den Namen, den überzeitlichen Begriffen der Dinge. Diese Begriffe dauern, während die durch sie befaßten Erscheinungen der Dinge dem zeitlichen Wechsel, dem Werden und Vergehen unterworfen sind. Der Schnee fällt, der Schnee schmilzt, aber der Begriff des Schnees bleibt. Die einzelnen wirklichen Menschen werden geboren, sie sterben, aber der Begriff Mensch verschwindet nie. Darum heißt es:

      Woher weiß ich denn, daß alle Wesen so sind?

      Eben durch sie, d. h. die Namen, die Begriffe. Zur Erkenntnis ist man wesentlich auf die Begriffe angewiesen.

      So hat hier Lautse eines der wichtigsten Probleme der älteren chinesischen Philosophie angeschnitten, das jahrhundertelang einen Gegenstand der Untersuchung bildete: das Problem des Verhältnisses von Begriff und Wirklichkeit – das im indischen Nama-Rupa auch enthalten ist.

      Die Wirklichkeit ist begrifflich erkennbar, weil die Begriffe nicht bloß willkürliche Namen sind, sondern weil in den Dingen selbst etwas irgendwie Rationales der Begriffsbildung entgegenkommt.

      Aber obwohl Lautse die Bedeutung der Begriffe für die Erkenntnisbildung sehr wohl kennt, ist das Problem damit für ihn nicht erledigt, daß er weiß, daß die Namen, die Begriffe ein nützliches Werkzeug des Erkennens sind. Denn hier erhebt sich für ihn eine sehr große Gefahr. Durch die Bewußtheit, die Erkenntnis entsteht für ihn wie für die Paradiessage eine Art Sündenfall. Denn nun wird das Einzelne aus seinem Mutterboden herausgelöst und verliert den organischen Zusammenhang mit dem Fluß des Lebens. Das Individuum ist da, und mit der Bewußtheit zugleich taucht die Selbstsucht auf, damit aber das „Widersinnige“, das zum Tode führt, je mehr des Lebens Fülle begehrt wird. Begriffe führen zu Erkenntnis, Erkenntnis führt zu Begehren, Begehren führt zu Selbstsucht, Streit, Gegensatz, Tod und Untergang. Und nicht etwa nur das Wissen um das Böse hat diese Folgen, sondern jedes Erkennen. Denn jedes Erkennen setzt mit seinem Objekt zugleich dessen Gegensatz. Aus der ursprünglichen Einheit tritt man mit dem Erkennen heraus in den Dualismus und muß da nun Partei nehmen.

      Wenn alle Menschen auf Erden das Schöne als schön erkennen,

      So ist damit schon das Häßliche gesetzt.

      Wenn alle Menschen auf Erden das Gute als gut erkennen,

      So ist damit schon das Böse gesetzt.

      Darum ist Lautse alles andere als kulturfreudig. So hat er den bekannten Angriff auf das Leben in Erkenntnis und Kultur ausgeführt, der in den von ihm beeinflußten Kreisen noch jahrhundertelang nachgewirkt hat:

      „Die Farben machen der Menschen Augen blind,

      Die

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