Ein Fall von großer Redlichkeit. Peter Schmidt
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Читать онлайн книгу Ein Fall von großer Redlichkeit - Peter Schmidt страница 10
„Wir würden nichts bekommen, wenn wir uns ohne Einladung setzen. Nicht einmal die Speisekarte.“
„Das ist sozialistische Planwirtschaft“, nickte er.
„Bitte nicht so laut …“ Sie blickte sich unbehaglich nach dem Kellner um.
„Auf Kritik steht Platzverbot, was?“
„Sie werden noch viel lernen müssen.“
Es dauerte eine Weile, bis der Kellner ihnen einen Tisch in der freien Ecke zuwies. Sie studierten die Weinkarte und bestellten eine Flasche bulgarische „Eselsmilch“. Papst bemerkte nach dem ersten Glas, dass sie nicht viel vertrug, obwohl sie den Wein wie Mineralwasser hinunterkippte.
„Fangen wir oben auf der Karte an und arbeiten wir uns langsam bis zur Mitte vor“, schlug er vor, als die Flasche leer war.
„Wollen Sie mich betrunken machen?“
„Ich will nur, dass wir uns etwas näherkommen. Fürs erste würde ein Du reichen.“
„Also gut.“ Sie streckte zögernd ihre Hand aus. „Julia – schließlich sind wir Arbeitskollegen.“
„Wolfhard.“
„Ernsthaft? Ein seltener Name. Ich werde Sie – ich meine.., ich werde dich Wolf nennen, obwohl es nicht zu dir passt.“
„Ja, ich gehöre eher dem Kreis der Lämmer an.“
Sie bestellten eine Flasche halbsüßen Tschechen und tranken sie bis zur Hälfte aus. Er sah, dass sie Schwierigkeiten hatte, gerade auf dem Stuhl zu sitzen.
„Wir sollten unsere Karten offen auf den Tisch legen“, sagte er plötzlich. „Welche Instruktionen hat man dir gegeben?“
„Instruktionen ...?“
„Mag sein, dass es nicht das richtige Wort ist. Aber irgendetwas muss man dir doch ans Herz gelegt haben.“
„Ich verstehe nicht, wovon du redest.“
„Wie ich mich einlebe, was ich rede. Ob ich ein guter Freund der Republik bin – oder ob ich mit anderen Absichten komme.“
„Mit welchen anderen Absichten?“, fragte sie und musterte ihn verständnislos.
„Karten auf den Tisch“, sagte er und berührte mit der Hand ihren Unterarm. „Damit es nachher keine Enttäuschungen gibt. Was haben sie dir aufgetragen?“
„Du bist verrückt.“
„Es ging plötzlich alles zu schnell. Da sind mir einfach Zweifel gekommen.“
„So? Na, ich kann dir nicht helfen. Welche Karten legst du denn auf den Tisch?“
„Harmlos bis ins Mark.“ Er hob beschwörend zwei Finger.
„Hier gibt es nur eine Überraschung“, sagte sie und zeigte zu einer schweren dunklen Holztür hinunter. „Wenn man lange genug bleibt, wird manchmal um Mitternacht der Hexenkeller geöffnet, und alles, was Rang und Namen hat im Faust, tanzt durch den Raum.“
4
Der Lesesaal der Deutschen Bücherei war ein hoher, düsterer Raum mit umlaufenden Balustraden und dunkel lasierten Holztreppen an jeder Ecke. Unter den schmalen Fenstern hoch in der Außenwand stand das Pult der Aufsicht, einer blau gekleideten, älteren Frau. Es befand sich zwischen zwei Karteikästen, von einem Globus gekrönt.
Papst konnte über mehrere Tischreihen hinweg erkennen, dass sie unermüdlich ernst und voller Strenge die verstreuten Leser auf den zweihundert Sitzplätzen beobachtete und jedes zu laute Geräusch mit einer nervösen Geste des Kopfes beantwortete.
Wenn das nicht ausreichte, tat sie einige Schritte in die Richtung des Störenfrieds. In der Regel genügte es, um ihn sofort zum Verstummen zu bringen.
Ein Mittelgang teilte den Saal. Die eine Hälfte der Tische sah zur anderen Hälfte – als genüge der strenge Blick der Aufsicht noch nicht, sondern müsse durch die Blicke der jeweils anderen Seite unterstützt werden.
Über jedem Tisch aus dunklem Holz befand sich eine gedämpfte Leuchtstoffröhre, und wenn Papst nur flüchtig von seinem Ende in der hintersten Reihe aufblickte, sah er nichts weiter als dieses Heer rötlichgelber Leuchtstoffröhren, über denen – in kaum mehr als drei, vier Metern Höhe – schon wieder dieselbe Finsternis begann, wie sie an trüben Novembertagen auch draußen herrschte.
Drei Glastüren an der Breitseite wurden manchmal geöffnet: immer lautlos, denn jeder der Eintretenden schien zu wissen, dass Ruhe und Ordnung das oberste Gebot war. Ein Schild neben dem Eingang verbot das Mitbringen von Essen und Getränken.
Hier wird also für einige Wochen mein Arbeitsplatz sein, dachte Papst und musterte manchmal von seinem Holzsessel aus den Buchbestand an den Wänden.
In den Wandregalen unten auf der Zwischenetage standen die Gebiete Politik, Philosophie, Militärwesen, Klassiker des Marxismus-Leninismus, Psychologie und Pädagogik, ferner Geschichte, Kunst und Recht, doch der größere Teil der Werke wurde an den beiden Ausgaben in der Vorhalle bestellt und aus riesigen, für Leser unzugänglichen Magazinen geholt.
Da Julia mit der Ankündigung weggegangen war, sie wolle sich um die Zuweisung seines Arbeitsgebietes kümmern, blätterte er in der alten militärtechnischen Ausgabe eines Düsseldorfer Verlages aus dem Jahre achtundfünfzig.
Nach einiger Zeit sah er auf die Uhr über dem einen Saaldurchgang: merkwürdig, überlegte er, sie muss schon eine gute halbe Stunde fort sein.
Er hatte erwartet, dass sie in Begleitung eines Angestellten zurückkommen würde, doch als sie in den Flügeltüren erschien, war sie allein und gab ihm nur einen Wink, ihr zu folgen.
„Es ist oben“, sagte sie. „Herr Felder erwartet uns.“
„Felder?“
„Ein umgänglicher Mensch.“
„Von der Universität oder einer der Bibliothekare?“
„Ich weiß nicht ... aber was spielt das schon für eine Rolle?“ Sie ging voraus.
Das Zimmer, in das sie ihn führte, war ein winziger Raum hinter einer weißlackierten Tür, in dem sich nichts weiter als ein Schreibtisch und zwei Stühle befanden. Der Mann auf der anderen Tischseite nickte Papst wohlwollend zu.
„Na ausgezeichnet. Willkommen in Leipzig“, sagte er.
Seine Stimme klang tief und bestimmt. Er hatte die Angewohnheit, während der Sprechpausen manchmal mit dem Daumen über seine Schneidezähne zu streifen.
Papst schätzte ihn auf etwa fünfundfünfzig. Kein Fältchen verunzierte sein lang gestrecktes, schmales Gesicht. Die Ohren waren etwas zu klein geraten: als hätten sie im Kindesalter aufgehört zu wachsen.
„Ich werde draußen warten“, sagte Julia