Ein Fall von großer Redlichkeit. Peter Schmidt
Чтение книги онлайн.
Читать онлайн книгу Ein Fall von großer Redlichkeit - Peter Schmidt страница 9
„Es ist der größte Bahnhof Europas“, erklärte sie, als sie seinen Blick bemerkte. „Sie kommen nicht in die Provinz oder ans Ende der Welt, falls Sie das geglaubt haben.“
Es war, als versuche sie ihm zu beweisen, dass sie ebenso ironisch sein konnte wie er.
„Hat man Sie auch in ein Luxushotel einquartiert, ehe Sie eine Wohnung bekamen?“
„Nein, man erlaubte mir erst die Einreise, als die Wohnungsfrage geregelt war.“
„Das deutet auf die Dringlichkeit meiner Arbeit hin“, erklärte er lächelnd.
„Ihr Spezialgebiet ist der Sprachvergleich, nicht wahr?“
„Ich habe mir gedacht, jeder braucht sein besonderes Etwas – wie die Zigarettenmarken im Westen.“
„Hier werden Sie alles, was mit Reklame zu tun hat, vergessen können. Es gilt nicht als schicklich, sich in den Mittelpunkt zu stellen. Natürlich soll man hervorragende Arbeit leisten. Aber die Universität fördert keinen wissenschaftlichen Starkult. Der höchste Maßstab ist die solidarische Arbeit zum Nutzen des ganzen Volkes.
Ihr Hotel liegt gleich auf der anderen Straßenseite – der Bau dort.“
Sie unterquerten die Fahrbahn durch einen Fußgängertunnel. „Dies ist Ihr Hotelausweis“, sagte sie, als sie in der Empfangshalle standen. Eine Gruppe kleinwüchsiger Kirgisen mit den Gesichtern junger Bauernburschen bewegte sich diszipliniert, aber unbeholfen in neu wirkenden Anzügen zum Speisesaal.
Gegen die Vorlage des Passes und Hotelausweises wurde ihm ohne weitere Umstände sein Schlüssel ausgehändigt.
„Man hat mir aufgetragen, Sie zu einem Begrüßungscocktail an der Hotelbar einzuladen.“
„Ich stelle nur meinen Koffer ab.“
Sie setzte sich in einen der Klubsessel nahe beim Fahrstuhl.
Zimmer 630 war ein Doppel und zu Papsts Erstaunen so groß wie ein Apartment. Der Wohnbereich ließ sich vom Schlafbereich durch einen Vorhang abteilen.
Es gab Radio, Telefon und Farbfernseher. Als er probeweise die Taste drückte, erschien das Testbild des westdeutschen Fernsehens. Ist das ihre besondere Art, einen für sich einzunehmen?, dachte er argwöhnisch.
Selbst der Toilettendeckel behauptete nach internationalem Standard mit seinem übergelegten Papierstreifen „hygienisch versiegelt“ zu sein. Nur die Heizung war auf sozialistische Sparstärke herabgedreht: kaum mehr als achtzehn Grad – als wolle man den Komfort nicht unglaubwürdig erscheinen lassen.
Draußen hatten sich die rieselnden Flocken zum Schneetreiben verstärkt. Hinter dem schmalen Streifen Park mit blattlosen Sträuchern und Bäumen begann eine Haltestelle, an der zahllose Straßenbahnen abfuhren. Sie besaßen offene Radkästen und quietschten altertümlich.
Und wo sind die Abhörwanzen?, dachte er mit einem Anflug von Spott, während er sich im Zimmer umblickte. Es war, als müsse er vor sich selbst eine gewisse Distanz wahren, um nicht kritiklos übergelaufen zu sein …
Auf der Ablage am Ende der Couch standen zwei Flaschen Mineralwasser. Im Schrank lag eine kleine Nähgarnitur für den Notfall, und im Badezimmer fand er Seife „Lavendel VEB“ und Badezusätze. Ein aufmerksamer Geist schien für alles gesorgt zu haben. Es ist der übliche Service, vor allem für Westtouristen, sagte er sich. Wenn es auch ganz und gar nicht mit dem ärmlichen Bild des Sozialismus übereinstimmte, das er sich drüben gemacht hatte.
Im Fahrstuhl hörte er polnische und russische Laute. Ein Mann mit dunkler Pelzmütze drückte zweimal denselben Knopf. Jemand hinter ihm lachte.
„Werden wir heute noch Herrn Schröder besuchen?“, fragte er, als er wieder unten war.
„Herrn …“
„Aus dein Rektorat. Der Mann, der so freundlich war, mir die frohe Nachricht zu übermitteln.“
„Ah, richtig. Nein.“ Einen Augenblick lang musterte sie Papst verwirrt. „Soviel ich weiß, unterschreiben Sie morgen Nachmittag an der Universität nur Ihren Vertrag – und morgens führe ich Sie erst einmal in der Bibliothek ein, damit Sie wissen, wo Sie arbeiten, ehe Sie sich endgültig entscheiden.“
„Aber ich habe mich bereits entschieden. „
„Na fein.“ Sie nickte und reichte ihm ihre kleine Hand. „Herzlich willkommen.“
„Das muss begossen werden“, sagte er. „Sie werden mich doch heute Abend nicht allein lassen – mutterseelenallein in der fremden dunklen Stadt?“
Es war tatsächlich ungewohnt dunkel draußen. Außerhalb der hell erleuchteten Hotelhalle versank die Welt in Finsternis. Blasse Lichtkreise lagen auf dem Pflaster. Das Licht der wenigen trüben Laternen kämpfte vergeblich gegen die Schwärze an, und die weit verstreuten Leuchtreklamen schienen wie untergehende Notsignale.
„Ist es Ihnen auch aufgefallen? Ja, die Winter sind sehr dunkel hier.“
„Soll ich das als Zusage verstehen?“
„Ich bin schließlich abkommandiert“, sagte sie.
„Dann machen wir also das Nachtleben unsicher?“
„Da werden Sie wenig Glück haben.“
Sie tranken zwei Cobbler an der Hotelbar, und Papst beobachtete, wie sie das Glas zum Mund führte. Es ist verrückt, dachte er. Kaum bin ich hier, packt mich plötzlich das Bedürfnis, nach alter Manier weiterzumachen.
„Wieso kein Glück?“, fragte er.
„Viele Bars schließen um achtzehn Uhr.“
„Aber es gibt doch andere Lokale?“
„Meist muss man auf einen Tisch warten, oder sie sind schon reserviert. Und an den einfachen Kneipen werden Sie leicht vorüber laufen, weil sie selten Lichtreklame haben.“
„Das ist ein wenig wie in Levanger, was?“, fragte er.
„Waren Sie schon mal dort?“
„Nein, aber ich stelle mir ein paar Holzhäuser vor, den Fjord … es ist ganz ähnlich.“
„Nur ohne Wasser.“
„Dafür ist das Bier besser.“
„Schließlich sind wir nicht zum Trinken hergekommen“, sagte er und leerte sein Glas.
Das Lokal, in das sie ihn ohne weiteren Kommentar führte, lag in einer hohen Geschäftspassage, und erst, als sie die Treppen hinuntergingen, entdeckte er, dass es Auerbachs Keller war.
„Donnerwetter“, sagte er. „Sie wollten mir nur einen Schreck einjagen, hab ich recht?“
„Einen Schreck – wieso?“
„Wegen der Lokale.“
„Warten