Ströme meines Ozeans. Ole R. Börgdahl
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Paris, 26. April 1890
Mutter und ich sind gestern von der Rue Marcadet zu Fuß fast ganz bis zur Seine gegangen. Das Wetter war so herrlich, die Sonne schon so kräftig. Es ließ sich bequem gehen. Wir waren gut anderthalb Stunden unterwegs. Unser Ziel war der Wohltätigkeitsbasar in der Rue Jean-Goujon. Es gab so viel zu sehen und so viele Versuchungen, etwas zu kaufen. Die Verkaufsstände sind zwar nur in einer einfachen Holzbaracke aufgebaut, aber alles ist so wunderschön dekoriert. Es wurde auch recht eng, weil der Basar an diesem Tag gut besucht war. Die Leute wollten aber nicht nur etwas kaufen, sie wollten auch die Verkäuferinnen sehen. Einige Damen aus der Pariser Gesellschaft haben es sich zur Aufgabe gemacht, den Basar für die Armen stattfinden zu lassen. Sie müssen sehr gute Verkäuferinnen sein, denn es schien mir, dass außer uns wohl jeder andere etwas erworben hat, auch wenn er es nicht benötigt. Mutter hat in so etwas einen eigenen Willen und sie kauft nichts, was wir nicht auch gebrauchen können. Ich musste mich daher ebenfalls zurückhalten, aber das Schauen allein war mir schon eine Freude. Ich habe den Gesprächen der eleganten Herrschaften gelauscht, die Kleidung der Damen bewundert und über die Schlagfertigkeit der Verkäuferinnen gestaunt, die so geschäftstüchtig waren, als wenn es ihre Profession sei. Mutter wurde immer wieder von Bekannten aufgehalten, sodass ich mir die Zeit nehmen konnte, mich alleine umzusehen. Ich war sogar einmal versucht, eine Perlmutt beschlagene Dose zu kaufen, aber die zweihundert Francs waren mir schließlich doch zu viel. Die Dose ging dann vor meinen Augen an einen Herrn, der nicht nur zweihundert, sondern gleich fünfhundert Francs dafür gab. Mutter und ich waren gut zwei Stunden auf dem Basar und auf dem Rückweg war ich schon so müde vom Schauen und Umhergehen, dass wir uns eine Droschke genommen haben.
Paris, 2. Mai 1890
Heute waren wir im Chaumont und haben auf dem Rasen und vor dem großen Teich Fotografien machen lassen. Es sollen Erinnerungen sein. Jetzt sind es nur noch zwei Wochen, bis Vater und Mutter nach Liverpool abreisen. Mutter gefällt es nach wie vor nicht, dass ich allein in Paris bleibe, aber ich will es unbedingt.
Paris, 8. Mai 1890
Ich darf seit drei Tagen im Verkauf helfen. Monsieur Rolland hat es mir am Montag mitgeteilt. Madame Riuné hat mich am Nachmittag unterrichtet. Sie hat mir alles gezeigt, was wir im Geschäft verkaufen. Ich weiß jetzt, was Gold- und Silberlegierungen sind und dass ein Diamant aus versteinerter Kohle besteht. Ich habe es nicht geglaubt, aber es muss wohl stimmen. Überhaupt habe ich viel über Edelsteine gelernt. Ich kenne jetzt alle Namen, Rubine, Smaragde, Saphire, Amethyste, Malachiten und Topase. Besonders schwer ist es, sich die Schliffe zu merken. Die Trapez-, Oval- und Tropfen-Formen sind noch einfach, den Scheren- und Briolett-Schliff kann ich jetzt aber auch schon unterscheiden. Am schönsten finde ich jedoch den Ceylon-Schliff, er wirkt so erhaben, so wie ich mir einen richtigen Diamanten vorstelle. Von den Steinen mag ich neben den Diamanten am liebsten den Bernstein. Ich konnte es auch nicht glauben, dass der Bernstein das Harz längst vergangener Wälder ist. Wenn Kunden ins Geschäft kommen, schaue ich Madame Riuné oder Monsieur Rolland noch zu. Wir haben vereinbart, dass ich am Vormittag weiterhin die Buchhaltung mache und danach im Laden verkaufe. Gestern habe ich noch vor dem Mittag die Briefe für die Rohrpost aufgegeben und nach meiner Rückkehr bin ich gleich vorne im Laden geblieben. Wir haben auch das Schaufenster neu dekoriert. Die Anordnung der Stücke war mein Vorschlag. Wir haben die günstigsten Ringe und Ketten ganz nach links gelegt. Zur Mitte hin wird es dann immer teurer und ganz rechts liegen schließlich die exklusiven Schmuckstücke. Es war auch meine Idee, ein gerahmtes Podest zu errichten, auf dem immer ein ganz besonders wertvoller Armreif oder ein Diadem präsentiert werden sollen. Monsieur Rolland will die Auslagen alle zwei Wochen erneuern, was in Zukunft auch zu meinen Aufgaben gehören soll.
Paris, 17. Mai 1890
Ich hatte die halbe Woche frei. Am Donnerstag war Feiertag. Gestern habe ich mir dann auch noch frei genommen. Es war Abreisetag. Ich habe Mutter und Vater zum Zug nach Le Havre gebracht. Jetzt sind sie endgültig fort. Sie reisen aber zunächst noch nach London und von dort erst nach Liverpool. Das große Gepäck hat eine Spedition schon letzte Woche verschifft. Als ich vom Gare Saint-Lazare heimkam, war es im Haus so still. Zum Glück habe ich ja noch Jeanette und Madame Bernier. Und natürlich habe ich Victor. Er hat mir gestern ein Geschenk gemacht, etwas ganz Wertvolles, etwas, dass eine besondere Bedeutung für ihn hat. Es ist ein Orden, aber kein gewöhnlicher Orden, es ist der Orden der Ehrenlegion. Ich war stolz, dass er ihn mir geschenkt hat, aber ich war auch traurig, als ich die Geschichte gehört habe. Ich sehe Victor vor mir. Ich sehe den elfjährigen Victor, wie er von seinem Direktor in das Lehrerzimmer gerufen wird. Ich sehe wie diese Männer ihm den Orden überreichen, diesen Orden, den eigentlich sein Vater hätte bekommen sollen, wenn er nicht bei Gravelotte gefallen wäre. Ich habe nachgesehen, dieses Gravelotte liegt in Lothringen und das gehört seit dem Krieg nicht mehr zu Frankreich. Oh, ich liebe Victor so sehr. Sein Geschenk verwahre ich jetzt wie einen Schatz.
Paris, 7. Juni 1890
Heute ist ein kleines Paket aus Liverpool bei mir eingetroffen und es ist schon sehr interessant. Anfang des Jahres schrieb der Figaro von einem Treffen zwischen unserem Jules Verne und der amerikanischen Journalistin Mrs. Nellie Bly. Mrs. Bly war auf einer Weltreise und über diese Reise ist jetzt ein dicker Band erschienen. Mutter hat ihn aus London mitgebracht und er ist natürlich in englischer Sprache. Ich freue mich schon, ihn zu lesen. Eine junge Frau, nur ein paar Jahre älter als ich, unternimmt ganz allein eine Weltreise. In Jules Vernes Buch wird eine Weltreise in nur achtzig Tagen unternommen. Es ist natürlich nur eine erdachte Geschichte, aber es muss etwas Wahres daran sein, denn Mrs. Bly hat diese Reise höchstpersönlich unternommen und sie hat es in zweiundsiebzig Tagen geschafft. Wie das möglich war, muss ich mir noch erlesen. Ich überlege auch, ob ich mir vorher nicht noch Jules Vernes Buch vornehme.
Paris, 13. Juni 1890
Heute auf den Tag genau vor zwei Jahren haben wir uns kennengelernt, zwei Jahre, eine lange Zeit. Jeder findet es merkwürdig, dass Victor mir an diesem Tag nur eine einzige Blume schenkt und es ist noch nicht einmal eine Rose, sondern eine gewöhnliche Dahlie. Für mich ist sie aber nicht gewöhnlich, für mich ist sie etwas ganz Besonderes und nur Victor und ich kennen ihr Geheimnis.
Paris, 18. Juni 1890
Ich habe mir Jules Vernes Erzählung über die Reise um die Welt von einer Freundin geliehen. Sie besaß sogar die Erstausgabe von 1873. Es ist also nicht verwunderlich, dass Mrs. Bly gut acht Tage schneller gereist ist, als ihre Vorgänger Phileas Fogg und Monsieur Passepartout. In fast zwanzig Jahren werden die Eisenbahnen und Dampfschiffe schneller geworden sein. Ich denke auch, dass eine Weltreise in weiteren zwanzig Jahren in noch kürzerer Zeit geschafft werden kann. Ich lese jetzt in jeder freien Minute den Jules Verne und bin bereits mit den beiden Helden in Indien. Mrs. Bly hat sich bei ihrer eigenen Reiseroute wohl sehr genau an die Vorlage des Buches gehalten. Es gibt nur eine Ausnahme und das ist der Umweg nach Amiens, um dort Madame und Monsieur Verne persönlich zu treffen.
Paris, 3. Juli 1890
Mutter hat wieder geschrieben. Ich spüre immer mehr, dass ich ihre Nachrichten brauche. Ich vermisse Vater und sie. Mutter schreibt vom Geschäft. Vater hatte es die ersten Wochen nicht leicht, doch jetzt hat er seine Lieferanten gefunden. Sie haben eine große Ladung Mahagoni und Palisander nach Liverpool gebracht und Vater hat bereits fast alles an eine Möbelfabrik verkauft. Die Briten sind wohl ganz verrückt nach dem braunen, schweren Holz. Wer das Geld hat, lässt sich daraus Schreibtische, Kommoden oder Kleiderschränke tischlern. Ich soll die Eltern so schnell