Das NOZ-Magazin 2015. Neue Osnabrücker Zeitung
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Der Eingang zum globalen Pflanzensamenlager. (Burkhard Ewert)
Eisbär-Warnung für das ganze Archipel. Dort leben mehr Bären als Menschen. (Burkhard Ewert)
Vergitterter Himmel über Prag
Irmela Schröck fünf Jahre vor Öffnung deutsch-deutscher Grenze aus Gefängnis befreit
Von Carola Alge
Wenn die Wahl-Haselünnerin Irmela Schröck das vergangene Jahr Revue passieren lässt, muss sie an ein Datum denken, das ihr Leben komplett veränderte: an den 19. Dezember. An jenem Tag vor 30 Jahren wurden sie aus einem Prager Gefängnis entlassen, in dem sie wegen Fluchthilfe einsaß. Ihr damaliger Mann Hanspeter blieb weiter in Haft.
Seit dem 1. Januar 1984 war sie inhaftiert. Das seinerzeit in Düsseldorf lebende Ehepaar saß hinter Gittern, weil es Schröcks Cousine und ihrer Familie damals seine Pässe und sein Auto gab, um ihnen Silvester die Flucht aus der ehemaligen DDR in den Westen zu ermöglichen. „Der Mann meiner Cousine hatte uns glaubhaft gemacht, dass man einen Bundesbürger nicht länger als drei bis vier Tage festhalten könnte. Daraufhin haben wir es gewagt, haben unser Auto als gestohlen gemeldet“, erzählt die heute 70-Jährige von jenem Tag, der den „Anfang vom Ende“ bedeutet habe. Die Napps hatten sich mit den Verwandten in Vimperk, 21 Kilometer von der deutschen Grenze entfernt, getroffen, dort die Übergabe arrangiert.
Für die Cousine und ihre Familie lief alles problemlos. Den Schröcks kam die Volkspolizei, der sie den angeblichen Diebstahl melden mussten, jedoch auf die Schliche. Bei Vernehmungen fragten Beamte, was sich denn alles in dem angeblich gestohlenen Auto befunden hätte. Schröck und ihr Mann mussten zugeben, dass auch ihre Pässe im Handschuhfach lagen. Die Polizei zählte eins und eins zusammen, rief an der nahe gelegenen Grenzstation an und stellte fest, dass dort in Waidhaus ein Mercedes mit vier Personen ausgereist war. Für die Cousine war mit der Überschreitung der Grenze die Flucht beendet. Sie war frei.
Das Ehepaar Schröck aber wurde verhaftet, kam nach Ceske Budjovice (Budweis) in den Knast. Fluchthilfe war der Vorwurf. Irmela Schröck, die seinerzeit noch Napp hieß, glaubte dennoch daran, bald wieder freigelassen zu werden. Dazu kam es nicht, weil ihr Mann nach drei Tagen Haft gestand. „Warum er das gemacht hat, habe ich nicht verstanden“, sagt die heute in Haselünne lebende gebürtige Sächsin, deren erste Ehe neun Jahre nach dem Vorfall auseinanderging. „Wir hatten ausgemacht, dass ich – falls alle Stricke reißen – eventuell gestehen sollte, alles hinter dem Rücken meines Mannes organisiert zu haben, damit wenigstens ein Elternteil bei den Kindern sein konnte.“
Stattdessen kam eben die Haft. Für die Deutschen begann eine reine Tortur. Die Haare wurde den Neu-Häftlingen auf zwei Zentimeter Länge abgeschnitten. Dann ging es in die sogenannte Kapitalisten-Abteilung im Gefängnis. Dort war Strafarbeit angesagt: Prospekte falten, Druckknöpfe sortieren. Schaffte jemand sein Soll nicht, drohten drastische Strafen: Unterbringung im eisigen Keller ohne Matratze und Fenster zum Beispiel. Viel hing von der Willkür der Schließer ab.
Was Schröck damals erlebte, welches Wechselbad der Gefühle sie durchlitt, hat sie versucht, in einem Buch zu verarbeiten. „Der vergitterte Himmel“ hat sie dieses unveröffentlichte Werk genannt. Der Tagesablauf in Budweis (Untersuchungshaft): 6 Uhr aufstehen (Sirene), Betten machen, Zelle aufräumen, Frühstück mit einer kaffeeähnlichen Flüssigkeit im Blechnapf und einem Kanten trocken Brot, rumsitzen, Mittagessen, rumsitzen, zehn Minuten Spaziergang in einem schmalen hochgemauerten Hof, der oben mit Drahtgeflecht überspannt war, rumsitzen, Abendessen, 21 Uhr Bettruhe zu viert in drei nebeneinandergestellten Pritschen bei ständig brennendem Licht.
Die erste Zeit in der Zelle, sie war schrecklich für die Deutsche. Sie war eingesperrt mit Tschechinnen, deren Sprache sie nicht sprach, nicht verstand. „Es gibt nichts Einsameres, als unter Menschen allein zu sein“, erinnert sie sich an ihre damaligen Gefühle. Dazu kamen die Sorgen um die beiden Kinder. Wie mochte es ihnen gehen, wo waren sie? „Es war ganz schlimm.“
Drei Monate, nach der Verurteilung und Revision kam Irmela Schröck in ein Arbeitslager nach Prag Prahatice. Dort hatte sie zwei deutsche Frauen als Zellengenossen. Manches wurde einfacher. „Wir konnten arbeiten und reden und singen.“ Trotzdem wäre sie manchmal „am liebsten mit dem Kopf gegen die Gitterstäbe gerannt, weil mich diese Hilflosigkeit verrückt gemacht hat“.
Etwa zur Hälfte ihrer Haft in Prag feierte Irmela Schröck ihren 40. Geburtstag. Feiern kann man das tatsächlich nennen, „denn es war ein besonders schöner Tag. Ich durfte meinen Mann sehen und sprechen. Die Wache hatte die Order bekommen, sich abseits zu stellen, sodass wir Händchen halten konnten und miteinander flüsterten.“ Ihre Zellengenossen hatten kleine Geschenke und „backten“ Kuchen, ihr Bruder ließ ihr durch den Rechtsanwalt Blumen überreichen.
Knapp fünf Monate sollte es von jenem 24. Juli an noch dauern, bis Irmela Schröck wieder auf freiem Fuß war. Von ihrer Entlassung träumte sie in der Nacht zu dem Tag, an dem diese wahr wurde: „Tags zuvor wurde ich zum Major befohlen, der mir sagte, dass er eine Beurteilung über mich schreiben müsse“. Eine vorzeitige Entlassung käme nur infrage, wenn er darin ein Sehr gut angeben könnte. Das könne er jedoch nicht, weil sie heimlich Briefe an ihren Mann schreiben würde. „Aber wenn Sie mir die Namen nennen von den Mitgefangenen, die auch heimlich Briefe schreiben, könnte das helfen“, sagte der Major. Schröck antwortete, dass sie nicht aufgrund eines Verrats an den Kameraden eher entlassen werden wolle. „Ich möchte auch noch in den Spiegel schauen können!“
In der Nacht setzte sich im Traum die Unterhaltung mit dem Major fort. Schröck glaubte, der Major wolle ihr sagen, dass sie allein begnadigt werden würde. Sie wachte vor Schreck auf. Ihr war vorher nie der Gedanke an eine getrennte Freilassung gekommen. Unruhe erfasste sie. Am Morgen danach wurde sie von einer Wache geholt, ihr Mann ebenfalls. „Was ist los?“, flüsterte sie ihm zu. „Anwaltsbesuch“, kam es leise zurück. Beide wurden in ein Gebäude geführt, in dem der Major schon wartete. „Der Anwalt ist noch nicht da, Sie können sich solange unterhalten!“, wurde gesagt. Irmela Schröck wollte gern auf ihren Traum zu sprechen kommen und den Major bitten, nicht die Einwilligung zu einer getrennten Entlassung zu geben. Er reagierte unwirsch: „Das können Sie später besprechen, reden Sie jetzt mit ihrem Mann!“ Dann ging er ans Telefon, sprach ein paar Worte, kam zurück und sagte zu ihrem Mann: „Sie haben eine Minute Zeit, um sich zu verabschieden. Ihre Frau wird entlassen!“ Beide umarmten sich, und ihr Mann sagte: „Ich freue mich für dich.“ Dann wurde das Ehepaar auseinandergerissen.
Jetzt ging alles hektisch und schnell. Irmela Schröck wurde mit einem Pkw und drei Beamten an die bayrisch-tschechische Grenze nach Waidhaus gebracht und den deutschen Behörden übergeben. Freuen konnte sich sie sich über die Entlassung nicht. „Ich dachte, dass mein Mann nun wohl drei Jahre absitzen müsste.“ Die drei Stunden Fahrt bis zur deutschen Grenze weinte sie ununterbrochen. Die 40-Jährige fühlte sich hilflos, einsam. Freunde aus Frankfurt, die ihre 16-jährige Tochter aufgenommen hatten, holten sie dort ab, brachten sie zu ihrer Tochter. „Manchmal glaube ich gar nicht daran, dass ich wirklich wieder zu Hause bin“, sagte Irmela Schröck den Medien damals, die ausführlich über das Schicksal des Ehepaares berichteten. Die Aktion mit Auto und Pässen sieht sie längst als „einfach zu blauäugig“.
Heute, drei Jahrzehnte nach der vorzeitigen Freilassung, ist Irmela Schröck Hans-Dietrich Genscher und ihrem Bruder Dierk, einem Rechtsanwalt, der die Kontakte zu der Bundesregierung knüpfte, immer noch dankbar. Ihr Mann wurde durch Genschers Fürsprache sieben Monate nach ihr entlassen.
In Haselünne, wo sie seit 2003 lebt, fühlt sie