Jakob Ponte. Helmut H. Schulz
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Da ich meine Zeit fast ganz zu Hause verbrachte, begann ich frühzeitig, die Stimmungen meiner drei Erzieher zu registrieren, wie ein Forscher das Freileben von Affen belauscht. Man brauchte dem Alten nur zum Mund zu reden, um ihn bei Laune zu halten. Von mir ertrug er keinen Widerspruch, so war ich ihm denn ein artiges, folgsames Kind. Mir konnte er befehlen; folgsam nickte ich ihm zu, kümmerte mich aber weiter nicht um seine Anordnung. Fragte er mich, ob ich seinen Auftrag ausgeführt habe, stellte ich mich dumm und taub, und da er zu bequem war, um der jeweiligen Sache nachzugehen, so blieb alles, wie es zuvor gewesen, und wir kamen, auch weil mir Großmutter gegen ihn immer den Nacken steifte, vortrefflich miteinander aus. Haupteigenschaft meiner Großmutter war die Neugier neben der Klatschsucht eines ihrer schlimmsten Laster. Ich aber entwickelte die Fähigkeit, sie mit allerlei erfundenen Geschichten zu unterhalten. Einmal erzählte ich ihr, dass vor der Plätterei uns gegenüber ein Auto gehalten habe. Sie hörte noch kaum hin, ein Auto hielt natürlich alle Tage vor einem Geschäft. Also spann ich den Faden weiter und sagte, ein Mann habe ein Paket in den Laden gebracht; das Auto, der Mann und sein Paket weckten endlich ihre Aufmerksamkeit; ich hatte sie dazu gebracht, zu fragen, um was es sich gehandelt haben könnte. »Es war ein langes Paket«, ich deutete die Größe des Paketes an. Dass sie mit der Plättfrau, einer dicken gutmütigen und gemütlichen Frau aus dem Volke, die für uns wusch, plättete und Gardinen aufspannte, ständig Krach um deren Preise hatte, spielte hier natürlich mit, hoffte sie doch, diesem Weib eins auszuwischen. »Es könnte auch eine Frau gewesen sein«, sprach ich wohl, denn mir war noch unklar, wie ich meine Erfindung ausbauen würde. Großmutter griff zu: »Noch einmal, du meinst, es könnte ein als Frau verkleideter Mann ein langes Paket in die Wäscherei gebracht haben? Das ist ja unglaublich! Ich habe diesem Weibstück nie getraut! Die mit ihren Schiebergeschäften, ich werde ihr das Handwerk legen! Wieso darf der Kerl ein Auto haben? Das ist verboten. Wir haben auch keins! Hätten es abgeben müssen, würden wir eins gekauft haben, diesen Volkswagen, haha,« in der Tat durfte seit Kriegsbeginn niemand ein Auto besitzen, was uns nichts anging, denn wir hatten keins, obschon der Alte versucht hatte, ihr das Geld für ein solches Fahrgerät zu entreißen. Sie versank in Nachdenken über die möglichen Verwicklungen, welche der von mir erdichtete Fall für die Plätterin nach sich ziehen könnte, eventuell und hoffentlich ihren Untergang, und es war nicht nur Bosheit, sondern mehr noch die Einförmigkeit des Lebens in der Provinz, die sie auf den Zusammenbruch der Plätterin hoffen ließ, das heißt auf deren Ärger mit der Gestapo. In diesem Falle und zu jener Zeit waren solche Verdächtigungen nicht ungefährlich für die Plätterin; Großvater diente der Kreisleitung und der Staatspolizei als Zuträger und sparte auch nicht mit Drohungen, wenn sich einer nicht an die Regeln und den Mund hielt. Wegen seiner Angeberei geriet er einmal in helle Panik, als uns eine Karte anonym ins Haus geschickt wurde, auf der ihm Vergeltung für sein Denunziantentum angedroht worden war: Wir kriegen dich schon noch, Nazischwein! Freu dich darauf! Wir hängen dich! Die von den Behörden nachlässig angestrengte Nachforschung verlief im Sande, der Absender ward nie entdeckt, und der arme Alte lebte eine Zeit lang in Sorge um sein Leben, schloss sich am Abend ein und mied dunkle nächtliche Straßen.
Diese von mir erfundene Geschichte sollte noch ein Nachspiel haben; sie schlug gewissermaßen auf mich zurück, weil Großmutter nicht den Mund halten konnte. Es war also dem Zufall und meiner Einbildungskraft zu verdanken, das Mama zu einigen Erkenntnissen über mich gelangte. Da sie immer alles Nebensächliche aufbauschte, eine Reaktion auf die Ödnis in ihrem Leben, geriet meine Erfindung um die Plätterin in einen größeren Zusammenhang, als ihr eigentlich zukam.
Der Krieg, so meinte Mama, habe verhinderte, dass sich ihr Geliebter zurückmeldete. Nun aber waren alle Fristen für die Rückkehr meines angeblichen Vaters überschritten, und Mama legte sich eine reserviertere Haltung gegenüber ihrem Verflossenen zu. Sie war reif, an mir die negativen Züge des Mannes zu entdecken, den sie plötzlich verabscheute. Dazu hatte meine Fabel über die Plätterin einiges beigetragen, die leider nicht in unseren vier Wänden verwahrt blieb, sondern öffentlich wurde. Einleitend behauptete Mama, dass ich meinem Vater immer ähnlicher werde. Der aufkommenden Hysterie in ihrer Stimme hätte ich das Weitere entnehmen müssen, aber ich war an jenem Tage vielleicht nicht bei der Sache, deshalb traf mich der Schlag unvorbereitet. »Er lügt schon wie sein Vater!« Hatte der gelogen? Sicherlich, das setzte ihn in meinen Augen nicht herab. Ich selbst log nicht nur oft, sondern fast immer, hatte also ein vernünftiges Verhältnis zur Lüge, zumal alle, die ich kannte, eifervoll schwindelten, hingegen Wahrheitsliebe heuchelten. Lügen und Leben gehörten zusammen. Da war es meiner Ansicht nach besser, sich der Lüge wie einer Waffe zu bedienen, auch wenn dies als unmoralisch galt, wovon ich zu dieser Zeit kaum eine Ahnung hatte. Meine Beziehung zur Lüge war noch ganz ursprünglich. Jedenfalls versuchte ich gar nicht erst, Mama zu widersprechen, sondern fragte nur bescheiden, wann ich denn gelogen haben sollte. Da kam es heraus. Die Plätterin drohte uns wegen übler Nachrede mit juristischen Schritten, behauptete, dass der Bengel, also ich, ein jüdischer Bastard sei. Was eine gerichtliche Verfolgung bedeutete, verstand ich zwar nicht, wohl aber, dass ich vielleicht den Anlass zu einer weiterreichenden Verwicklung gegeben hatte. Sie alle wären bestürzt über meine Schlechtigkeit, hieß es! Es sei allen unbegreiflich, weshalb ich überhaupt gelogen hatte. Es habe absolut keinen Grund gegeben, die arme Plättfrau eines Verhältnisses mit einem Zuchthäusler zu bezichtigen, mit dem sie Schwarzmarktgeschäfte mache! Wovon allerdings nie die Rede gewesen war.
»Sie ist immer gut zu dir gewesen! Rede, du Lümmel!« Wie sollte ich Mama erklären, was ich selbst nicht begriff. Offenbar hatten noch andere Leute Gefallen an dieser Geschichte gefunden und sie weiter ausgeschmückt. Menschenjagd und Verleumdung verschaffen uns hohe Genüsse, wie ich zu ahnen begann. Um diese Zeit etwa mag sich das Syndrom der Denunziation bei mir eingepflanzt haben und ich zähle somit zu den Nutznießern dieser Abscheulichkeit! Die praktische Lehre war, dass man mit solch kleinen Erfindungen etwas in Bewegung bringen konnte, was sonst in Ruhe verblieb, auf sich aufmerksam machte, und darin besteht wohl die Hauptursache für die allgemeine Lust an der Verleumdung.
Dann begann Mama damit, ihren Lebenstraum abermals umzukehren. Demnach hatte es keinen besseren Mann gegeben als den Argentinier. Vor Jahr und Tag also hatte er den Laden betreten, um etwas zu kaufen. Eine Kette. Neugierig wartete ich ab, bis Mama ihre Beichte schloss; schön, er sei vielleicht ein Lügner gewesen, trotzdem habe sie sich einen Rest Gefühl für ihn bewahrt! Und schließlich die von ihm gekaufte Ware in sein Hotel gebracht, basta! Da hustete Großmutter und fragte, ob sie glaube, ihr Kind würde diesem Unsinn etwas Nützliches entnehmen können. Sie schlug vor, mir ein paar zu langen und die Sache mit einer Entschuldigung bei der Plättfrau als erledigt zu betrachten. Während sie sich stritten, erwachte in meiner Brust ein Gefühl der Überlegenheit. Es wäre leicht gewesen, ihnen zu erklären, welche Rolle Lügen und Heuchelei in ihrem Leben spielten, hätte ich nur schon Worte dafür gehabt. Ich schwieg, um dieses Gerede nicht ins Uferlose gehen zu lassen, ließ es sogar zu, dass Mama mich an sich zog. Sie brauchte mich mehr als ich sie. Sie selber sorgte für meine Rehabilitierung. Auf dem Umweg über ihren Sohn fand sie zu dem Mann ihrer Träume zurück,