Jakob Ponte. Helmut H. Schulz

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Jakob Ponte - Helmut H. Schulz

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Gehilfin Zahlen zu, die diese in ein Formular notierte, indessen ich vollkommen nackt vor ihm stand; er ließ mich die Füße auswärts und einwärts stellen, griff mir in den Mund, hob meine Augenlider und betastete die Linie meines Rückens. Was er gemessen und getastet haben mag, vermag ich nicht zu sagen; allein mir war beklommen angesichts des Ernstes, mit dem ich untersucht wurde. Auf dem Tisch stand ein Spiegel, sodass ich mein Gesicht erblickte. Es war schmal, von schwarzem Haar umrahmt; mit meinen geschlitzten Augen ähnelte ich einem hinterhältigen gefährlichen Asiaten von minderwertiger Menschenart. Mein Mund erschien schmal und farblos. Ich zog die Lefzen hoch und fletschte die Zähne, die bläulich weiß gewesen sind aber in einer geraden Reihe lagen. Ob ich mir gefiel, kann ich nicht sagen, aber ich betrachtete mich zum ersten Mal wie einen Fremden in einem Spiegel.

      »Warst du schon einmal im Kino, Jakob?« Auf meine verneinende Antwort sagte er: »Dann wollen wir es einmal versuchen. Vielleicht bekommen wir dadurch Klarheit über dich.« Ob Doktor Wilhelmi sich exakt so ausgedrückt hat, muss dahingestellt bleiben, nur dass seine Überlegungen in diese Richtung gingen, das ist sicher. Müllhaeusen war mit Kinos nicht gerade gesegnet; es hatte überhaupt erst vor Kurzem eins bekommen, von uns als Flohkiste bezeichnet, das sich wachsenden Zuspruchs erfreute.

      Wir setzten uns in den Zuschauerraum, hörten Musik und sahen die harmlosen Werbungen für Brillengestelle und Persilpackungen. Dann aber erschien zu klingender Musik, der ein sieghafter Zug nicht abzusprechen war, ein Adler, von Licht umstrahlt. Die Deutsche Wochenschau, dieses Musikmotiv sollte ich nicht wieder vergessen. Endlich flimmerten die Bilder vor meinen Augen, die ich in meinen Nächten visionär geschaut hatte: Kolonnen der Wehrmacht, Panzer und fliegende Waffen; den Duce, mit vorgerecktem Kinn auf einem weißen Pferd, unseren Führer und Reichskanzler, den englischen Premierminister und andere. Doktor Wilhelmi beugte sich zu mir und fragte mich im Flüsterton, ob ich diese Personen wirklich alle schon im Traum gesehen hätte, Männer, die Hunderte oder Tausende Kilometer entfernt von mir lebten. Ich besaß keinen Begriff von Entfernungen; mir schien aber, dass wir alle in einem sehr nahen, einem sehr engen Raum lebten, und dass unsere Schicksale zusammenhingen. Die großen Heersäulen mit den lachenden und singenden jungen Männern zogen an mir vorüber. Mich überwältigten die Bilder auf der Leinwand. Herrliche Fahnen mit Hakenkreuzen, die ich freilich schon aus eigener Anschauung kannte, sie flatterten mir in dieser Zeit meines jungen Lebens voran, wenigstens bis zur ersten Wende, das heißt, bis sie verboten wurden. Sogar Großvater kletterte auf einen Stuhl und steckte unsere Fahne in die dafür vorgesehene Blechhülse, wenn die Jugend oder die SA marschierte. Was ich im Film sah, erregte mich; ich war außer mir beim Anblick all dieser Bilder; freudige Zustimmung griff in meinem Herzen Platz. Ich muss bei dieser Gelegenheit ausführlicher werden …

      Auf der Suche nach den Spuren meiner politischen Klarsicht steige ich hinab in die Tiefen meiner frühen Existenz, um zu erkennen; mag das Bild, welches ich hier abliefere, auch lückenhaft erscheinen und bleiben müssen. Niemals werde ich mich dazu verleiten lassen, eine Aussage über meine Fähigkeiten zu treffen. Das Urteil darüber steht nur dem Parapsychologen zu, oder wer sich sonst in diesem unwegsamen Gelände von Telepathie, Psychiatrie, Soziologie, Politik und Unsinn auskennen mag. Das ganze Unglück habe mit einem Manne namens Freud begonnen, einem aus Wien nach England emigrierten Juden; eine frühe Bemerkung Doktor Wilhelmis, dem Tagebuch Mamas entnommen, die alles mich und ihn betreffende eintrug. Diese Sentenz blieb mir im Gedächtnis, wie ich immer wachsam auf sprachliche und andere Mitteilungen geachtet habe, jedenfalls seit ich bewusst zu leben und zu denken anfing, als ein mir mitgegebenes Talent, zu beobachten, die Zeit nicht zu verschlafen, wenn auch ohne den Ehrgeiz, einzugreifen.

      Vermutlich wird der Leser, diese mythische Größe, an dieser oder auch schon an anderer Stelle zu der Feststellung kommen, der junge Jakob dürfte kaum so komplizierte Gedanken gehabt haben. Das mag für gewöhnliche Kinder zutreffen, nicht aber für Wunderkinder, wie sie heute von sitzen gelassenen und übermotivierten SchriftstellerInnen in großer Zahl herangezüchtet werden, freilich nicht nur von Schriftstellerinnen; sie alle verfangen sich zur Züchtung einer neuen freiheitlichen Menschenklasse, auch ohne rassische Auslese. Seht euch daraufhin die Biografien an! Ich darf mich als ein Vorgriff bezeichnen. Im Folgenden will ich näher darlegen, wo meine Erfahrungsgrenze verlief, die zu überschreiten mir damals nicht gelingen konnte. Die mitzuteilende Episode enthält aber auch den Fingerzeig, wo die Erwachsenen die ihre hatten, und was herauskommt, wenn man mehreren Herren zugleich dienen will.

      4. Kapitel

      Le silence du peuple est la lecon de roi; ob es Königen, Präsidenten, Parteivorsitzenden oder Sekretären und dem Papst gegeben ist, Erkenntnisse aus dem Schweigen des Pöbels zu ziehen, diese Frage entscheidet der Meister Mirabeau immerhin positiv als Lehrstück für die Herrschenden. Wenn das Schweigen eines Volkes die Mächtigen vor Fehlern warnen soll, so ist Beredsamkeit noch lange keine Zustimmung zu ihren Irrtümern. Die Verhältnisse in einer Provinz sind fast immer kleinlich; hier kommt alles später an; vielleicht ist die Provinz gerade deshalb ein Spiegelbild für die Verhältnisse eines Landes. Die Diktatoren großer Reiche bieten neben ihrer Albernheit immerhin gelegentlich das Bild erhabener Macht; ihren kreisbevollmächtigten Satrapen bleibt nur die Rolle des Popanz und der Lächerlichkeit. Zwar sollte ich mich solcher Urteile enthalten, zumal ich mich nicht mit Politik abgegeben habe und auch künftig nicht zu befassen gedenke, aber eben solche Sätze wie die des Mirabeau geben auch noch dem heutigen Zeitgenossen zu denken; sie sollten es wenigstens. Unabhängig späterer Überlegungen ist festzustellen, dass meine Visionen nur vor den Ereignissen eintraten; zum Exempel: Seit den Tagen des Mai, mit dem Beginn der Angriffshandlungen im Westen, hatte ich mich außerordentlich wohlgefühlt, war ganz auf der Höhe des gemeinsamen Impetus der Provinz, sich als Teil einer Großmacht zu fühlen. Auch als die britisch-französische Armee bei Dünkirchen eine schwere Niederlage erlitt, die Briten aber gleichwohl in ihrer Masse der Vernichtung entgingen, befand ich mich, ohne genauere Kenntnis der militärischen Vorgänge natürlich, noch in Hochstimmung wie alle Provinzler. Um die letzten Wochen des Juni finde ich im Tagebuch Mamas Eintragungen wie: Heute wurde der Waffenstillstandsvertrag mit Frankreich unterzeichnet! Bei Jakob keinerlei seelische Erkrankung; ein strahlend gesundes Kind tritt mir entgegen!. Gut!

      Der von Mama erwähnte, der die Kriegshandlungen beschließende Vertrag wurde am 22. Juni 1940 unterzeichnet, für diejenigen, die sich für dergleichen Datierungen noch interessieren. Ich stand zwischen meinem fünften und meinem sechsten Lebensjahr; wenn mir schon keine tieferen Einsichten abverlangt werden durften, und wenn die Eintragungen in Mamas Tagebuch eine persönliche Anteilnahme an den weltgeschichtlichen Dingen nehmen, so hätte von meinen Verwandten und dem Stadtvolk Müllhaeusens doch wohl erwartet werden dürfen, an die Zukunft über dieses Abkommen hinaus zu denken. Aber, um gerecht zu sein, von einer Niederlage war weithin keine Spur zu erkennen, und meine telepathischen Fähigkeiten bezogen sich nun einmal nicht auf Niederlagen, sondern bloß auf die kommenden Siege. Möglicherweise ist mir deshalb meine telepathische Fähigkeit abhandengekommen. Ein Volk kann vielleicht in corpore jubeln, aber offenbar nicht ebenso einmütig sich selbst misstrauen. Einstweilen feierten wir mit der ganzen Provinz. Vor meinem Fenster dröhnten die Trommeln, es flatterten die Fahnen, und das alte Rathaus legte Festschmuck an. Kindisch bezog ich indessen alles auf mich und sah glücklich hinunter auf die trommelnden Kinder, die vielleicht noch des Glückes teilhaftig werden konnten, in den Kampf zu ziehen. Die Provinz wollte und konnte von den Ermahnungen der Welt, den Juden und den Kommunisten und allgemein andersgläubigen Toleranz zu gewähren, nichts wissen.

      Natürlich liegt auch immer eine Absicht in der erzeugten und beförderten Stille, von der Mirabeau spricht. Als ich aus Anlass des Sieges und der Idee absoluter Ordnung, einer erhabenen und siegreichen Diktatur, auf meine Weise Beifall spendete, wusste ich nicht, was ich tat. Gleichsam von selbst entstand in mir der Zwitter aus opponierender Stille und verzückter Staatsanbetung, die bis heute an uns Deutschen als Topoi zu studieren ist; immer ist das Gegenwärtige das moralisch Recht! Es ging mir, wie ich nochmals betone, seit dem Angriff auf den Westen und dem Sieg in Frankreich seelisch ausgezeichnet, obschon die Leiden, die ich und alle anderen vor sich hatten, abzusehen gewesen wären,

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