Ein philosophischer Streifzug durch die Jahrtausende. Markus Orians
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Anders das Spürbewusstsein. Es gibt keine Sprache, kein Vergleichen, kein Bewerten, kein sich Erinnern, kein Zukünftiges. Das Spürbewusstsein bringt mich in Kontakt mit mir selbst. Die Sinne sind geöffnet und ich nehme direkt wahr, bin mit meiner Empfindung beim Gegenüber. Ich bin im Hier und jetzt. Ich benenne nicht die Bäume als Eiche oder Buche, oder bezeichne den Vogel als Amsel oder benenne den Sonnenuntergang, sondern höre das Rauschen der Blätter, das Singen des Vogels und berausche mich am Sonnenlicht. Nichts wird gedeutet oder verglichen. Die Erfahrung ist einmalig. Es gibt hier keine Erinnerung. Es gibt keinen Abstand zu dem Gegenüber, keine Trennung und keine Angst. In dieser Art von Bewusstsein ist eine Berührung oder ein Kuss mit seiner seit 20 Jahren verheirateten Frau immer wieder neu und einmalig. Nur diese Seite unseres Bewusstseins kann mit Freude, Liebe oder Glück verbunden sein.
Im Buddhismus gibt es eine Vielzahl von Methoden, die alle mit der Arbeit unseres geistigen Vermögens, unseres Bewusstseins und der reflektierten Selbstwahrnehmung verbunden sind. Daher ist es nicht möglich sich als Opfer zu sehen, wie dies in unserer westlichen Kultur ein tief internalisiertes Denken bei vielen Menschen ist und zu vielem unnötigem Leiden und auch zur oft nicht an-gemessenen Hilfe der Helfer führen kann. Welches Leid steckt alleine darin, sich als Opfer zu sehen. Menschen, die sich in der Opferrolle sehen, haben es schwer an der Wirklichkeit zu bleiben. Erlittenes wird dann immer wieder hervorgehoben. Verant-wortung wird abgegeben, in Beziehungen und Konflikten irgend- etwas oder jemand wird stattdessen schuldig gesprochen! Der Buddhismus kennt keine Schuld. Deshalb kann es auch keine Schuldzuweisungen geben. Wenn es keine Schuld, keine Sünde gibt, dann gibt es auch keine Sühne. Im Leid gibt es nur mich und meinen Geist.
Ich habe den Buddhismus immer mehr als Selbsttherapie angesehen, als eine Art huma-nistische Therapie, denn das Wichtigste ist die persönliche Erfahrung durch Selbst-reflektion, nicht nur durch sich selbst Fragen zum eigenen Denken und Handeln zu stellen, sondern auch zu allen Ideologien, Philosophien, Meinungen, Religionen... Toni Packer nennt diese radikale Selbstbefragung „Meditatives Fragen.“ Deshalb wird Achtsamkeit, Mitgefühl, Medi-tation, Stille gelehrt. Viele dieser Aspekte des Buddhismus sind in die humanistische The-rapie hineingeflossen. Buddhismus passt auch gut zur westlichen Erkenntnisgewinnung über die Logik und die Wissenschaften.
Niemand hat mich gedrängt, von der Lehre etwas anzunehmen, wenn ich eine andere Meinung hatte. Weil jeder Lama oder Roshi (Meister, Lehrer) während seiner Praxis andere persönliche Erfahrungen gemacht hat, hat sie oder auch er im Detail eine unterschiedliche Lehrmeinung. Es gibt auch keinen der eine buddhistische Hierarchie anführt, wie dies bei den Katholiken durch den Papst der Fall ist. Daher gibt es aber zum Beispiel im Buddhismus auch eine feministische Richtung, nicht nur von Sylvia Wetzel. Man wird Lehrer oder Lehrerin, wenn man durch sehr viele und über jahrelange (3 Jahre) Selbsterfahrungen oft in der Einsamkeit hindurchgegangen ist. Eine Nonne oder ein Mönch verpflichtet sich auch zum Zölibat. Wenn man sich aber später z. B. für eine Partnerschaft entscheidet, behält man den Status der Lehrerin oder des Lehrers bei. Es gab und gibt auch richtige „Freaks“ unter den Meistern, wie Richard Baker Roshi, oder Toni Packer, aber auch sehr strenge Meister vor allem im Zen Buddhismus wie Shunryo Suzuki, der in Amerika lehrte. Ein buntes Kaleidoskop von Lehrern, die durch die jahrelange, für uns extreme Selbsterfahrungen, eine persönliche Reife und tiefgründige, geistige Erfahrungen und Wissen entwickelt haben. Was sie weitergeben ist daher nicht nur ein tiefgründiges geistiges Wissen sondern vor allem per-sönliche, spirituelle Erfahrung. Zum Teil sehr traditionell und streng hierarchisch gegliedert, zum Teil sich immer mehr sich aus diesen traditionellen Strukturen lösend. So hat Toni Packer in den 80er Jahren sich weit von der Zen Tradition entfernt, indem sie viele Rituale und Übungen, die vor allem eine hierarchische Struktur unterstützten, einfach fallen gelas-sen hat. Damit hat sie nicht nur die amerikanischen Zenklöster beeinflusst. Sie nimmt die Worte des Buddhas ernst, die besagen, dass der Buddha seine Hörer ermahnt hat, das gesprochene Wort nicht zu akzeptieren, noch das, was in einer Schrift geschrieben steht, noch die scheinbare Fähigkeit eines anderen, noch die Überlegung, dass diese Person mein Lehrer ist. Er sagte in seinen letzten Worten: „ seid euch selbst ein Licht. Nehmt keine Zuflucht in äußeren Dingen. Haltet fest an der Wahrheit. Sucht in niemandem Zuflucht außer in euch selbst.“ Diese Haltung führt wahrlich zu demokratischen Strukturen und ganz flachen Hierarchien. Diese geistige Wissenschaft fördert aber auch Selbsterkenntnis, Selbstbewusst-sein und eine kritische Einstellung zur Politik.
Der Buddhismus ist nicht dogmatisch und konnte sich deshalb auch den säkularen Philo-sophien und der Psychologie des Westens öffnen. Er hat sich westlichen Lehren, die auch Gewaltfreiheit und den Abbau des Egos lehren, weit geöffnet und mit in die eigene Lehre und Methoden eingebunden. Aber auch umgekehrt ist es heute nicht mehr ungewöhnlich, wenn Pfarrer und Mönche eine Zenausbildung gemacht haben oder sogar Zenmeister sind, wie die beiden Benediktinermönche Willigis Jäger oder David Steindl Rast. Der damalige Kardinal Josef Ratzinger und heutige Papst Pius XVI hat Willigis Jäger deshalb verboten, die Messe zu zelebrieren. Genauso lassen sich buddhistische Mönche in humanistischen Thera-pien ausbilden. Therapeuten mit analytischer Ausbildung wie z.B. Luise Reddemann aber auch in der Familientherapie findet man geistige Gesetze und Methoden, die an den Bud-dhismus angelehnt sind. Mittlerweile gibt es eine Fülle von Literatur über Psychotherapie und Buddhismus. Beide Therapien verbinden Wege aufzuzeigen, wie der Mensch sich selbst aus seinem Leiden befreien kann. Die Psychotherapie entstand genauso, wie der Buddhis-mus als Reaktion auf das scheinbar unentrinnbare Leiden in der Welt.
Innerhalb dieser Auseinandersetzung kommt man zu allen grundlegenden Fragen im Leben, über den Sinn im Leben, Tod, Krisen, Gier, Neid, Verluste, Angst, Glück, Verantwortung, Freiheit, Gerechtigkeit, Beziehung, Identität... Keine Frage, die nicht gestellt werden kann. Man erkennt in dieser Art Selbstreflektion, dass es auf viele Fragen keine konkreten Antwor-ten geben kann. Stattdessen wird man in die Stille geführt, die einem Antworten jenseits der Sprache, jenseits der Ratio ermöglichen kann. Durch dieses „Sich selbst Erkennen oder „me-ditative Fragen“ wie Toni Packard es nennt, kann man feststellen, dass es innerhalb dieses Fragenkomplexes nur Weniges gibt, das wir wirklich wissen. Es bleibt die Möglichkeit in die Stille „hineinzulauschen“ und jenseits von Ratio zu verstehen.
Im Zazen geht man davon aus, dass ein Großer Teil des Leidens, psychischer Schmerz, aber auch körperlicher Schmerz durch den Widerstand gegen den Lebensprozess auftritt. Unser Versuch, das Geschehene nicht anzunehmen, zu verdrängen und zu verleugnen, verursacht bei uns physische und psychische Schmerzen. Aufrichtige Trauer und die geistige Arbeit können uns wieder mit dem Leben verbinden. Diese Auseinandersetzung führt uns nicht vom Leiden und dem Schmerz weg, sondern mitten hinein und hindurch. Die Krise wird als Notwendigkeit zum inneren Wachstum begriffen. Krisen gehören zum Leben und sind nichts Ungewöhnliches. Man kann altes Denken und Handeln zurücklassen und sich neuem ganz-heitlichem Denken öffnen, das man ohne die Krise sonst niemals kennengelernt hätte. Krisen und Schicksalsschläge sehen wir häufig unter dem Horizont des „ Warum gerade ich.“ Dies ist eine Fragestellung die nicht wirklich zu Antworten führt. Der Horizont des „Wozu, was will mir diese Erfahrung zeigen“, kann uns zu Antworten, zu Einsichten, zum Verstehen leiten. Die Öffnung dieses Horizontes kann mir die inneren Bilder, die Meinung, die Ideologie zei-gen, warum ich diesem leidvollen Denken anhänge. Dies ist eine Voraussetzung die Situation und das gesamte „Sein“ mit neuen Augen zu sehen.
Diese Methoden, die die tägliche Praxis und Selbstreflektion mit in den Alltag nehmen, ist das besondere dieser „Religion“ oder Wissenschaft und damit sind sie allen mir bekannten Religionen oder Philosophien überlegen. Die Methoden beinhalten eine systematische Schulung des menschlichen Bewusstseins und des gesamten Geistes.
Ein japanischer Zenmeister empfing einen Universitätsprofessor, der etwas über Zen erfahren wollte. Der Zenmeister