Eine unglaubliche Welt. Sabine von der Wellen
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Sabine von der Wellen
Eine unglaubliche Welt
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Inhaltsverzeichnis
Die verschwundenen Kinder
Gleißendes Mondlicht fällt durch ein kleines Dachfenster in das Kinderzimmer, dessen Wände mit einer bunten Rennwagentapete beklebt sind. Die sonst so grellen Farben leuchten nur schwach und geben dem sonst so unruhig wirkenden Bild, ständig durch das Zimmer preschender Rennwagen, ein klein wenig Ruhe.
„Warte …, wo bist du?“, raunt eine Stimme im Schlaf und ein Körper wälzt sich in dem Kiefernbett unter dem Fenster hin und her. „Warte doch!“, stammelt es unter der hellblauen Decke, die zu beben scheint. „Nina! Warte auf mich!“
Gerrit schnellt hoch. Seine Haare kleben ihm schweißnass an der Stirn und sein Schlafanzug hängt ihm feucht am Leib. Starr blickt er in die dämmrige Dunkelheit des vom Mondlicht erhellten Zimmers.
Seine Decke sinkt zu Boden und sofort spürt er die Kälte der Nacht, die durch seinen Schlafanzug dringt. Das reißt ihn vollends in die Wirklichkeit.
„Wieder dieser Traum!“, denkt er und zieht die Decke auf das Bett zurück. Zitternd rollt er sich hinein und schließt die Augen.
Erneut sieht er die Gestalt aus seinem Traum vor sich, das Gesicht umrahmt von üppig blonden Locken und die blauen Augen, die ihm traurig entgegenstarren, wobei kleine Kinderfinger das seidige Fell einer Katze umklammern.
Wie jedes Mal, wenn er diesen Traum hat, fleht sie ihn an: „Bitte, Gerrit, hol mich wieder nach Hause.“
Er hatte das schon oft geträumt und es erscheint ihm mittlerweile so, als wenn seine kleine Schwester Nina ihn dringender ruft. Er weiß, in dieser Nacht wird er nicht mehr schlafen können. Wie immer lässt der Traum die Geschichte um seine Schwester wieder neu in ihm aufleben.
Erneut überrollt ihn die tiefe Traurigkeit und gibt ihm das Gefühl, dass er etwas unternehmen muss. Immer stärker setzt sich in ihm der Glaube fest, dass sie tatsächlich nach ihm ruft und dass das nicht nur ein Traum ist.
Er ist jetzt dreizehn Jahre alt, kein kleiner Junge mehr! Er spürt, dass es an der Zeit ist, die Dinge nicht mehr einfach hinzunehmen. Inzwischen kommt es ihm sogar so vor, als sei er als einziger dem Schicksal der anderen Kinder entronnen und vielleicht genau aus diesem Grunde auch der einzige, der herausfinden kann, was eigentlich mit ihnen geschehen war.
Sein Blick fällt auf seinen Radiowecker, den er zu seinem letzten Geburtstag von seiner Mutter bekommen hatte. Ein Geschenk, dass er aus tiefstem Herzen verabscheut, denn es symbolisiert einen weiteren Schritt seiner Mutter, sich ihm zu entziehen.
Seit Nina vor zwei Jahren spurlos verschwand, scheint es in diesem Haus keine Freude mehr zu geben. Außerdem kommt es Gerrit jeden Tag aufs Neue so vor, als seien seine Eltern mit Nina verschwunden. Er fühlt sich allein und verlassen. Keiner nimmt Notiz von ihm - und dann noch dieser Radiowecker!
„Jetzt kannst du morgens immer allein aufstehen“, hatte Mama zu ihm gesagt und ihn kurz an sich gedrückt. Doch das war nur ein winziger Moment gewesen und sie schien sofort wieder hinter ihrer Wand aus Traurigkeit und Hoffnungslosigkeit zu verschwinden. Dafür hielt er diesen Radiowecker in der Hand, der ihr nun noch die wenigen Minuten abnimmt, die sie sich sonst morgens für ihn genommen hatte, um ihn zu wecken.
Es ist kurz nach fünf. Gerrit atmet auf. Nur eine schlaflose Stunde, bis er sowieso aufstehen muss. Eine Stunde wird er überstehen, zumal sein Entschluss schon lange feststeht. Er wartet nur noch auf ein Zeichen und hofft, der Mut wird ihn dann nicht verlassen. Obwohl er weiß, dass er mit seinem Entschluss seinen Eltern vollends das Herz brechen wird, gibt es für ihn kein Zurück mehr. Er kann mit der Ungewissheit und den ständig an ihm nagenden Selbstzweifeln nicht mehr leben. Wenn er recht behält, dann wird es eine Möglichkeit geben, die ihm zeigt, was aus Nina und den anderen Kindern geworden ist. Er braucht nur den Mut, den Zeichen zu folgen und sich der Ungewissheit zu stellen, mag sie ihm auch letztendlich den Tod vor Augen führen.
Am folgenden Sonntag ist der vierte Advent. Gerrit sitzt mit seinen Eltern am Frühstückstisch und zwischen der Butter und den Eiern prangt ein wunderschöner Adventskranz mit vier leuchtenden Kerzen.
Weihnachten steht vor der Tür und Gerrit graust es allein bei dem Gedanken daran.
In diesem Haus ist Weihnachten, Ostern oder der elfte September, Ninas Geburtstag, zu Tagen des Grauens geworden. Das sind die schwarzen Tage, an denen Nina allen besonders fehlt. An diesen Tagen überrollt sie die Erinnerungen an das Mädchen wie ein tonnenschwerer LKW und der Schmerz über ihren Verlust lebt wieder neu auf.
„Reichst du mir mal die Butter rüber?“, fragt sein Vater über den kleinen Tisch hinweg.
Sein braunes Haar ist in den letzten zwei Jahren sehr schnell grau geworden und seine blauen Augen blicken ihre Umwelt nur noch wie durch einen trüben Schleier an. Er hat seit Ninas Verschwinden bestimmt zwanzig Kilo abgenommen.
Gerrit muss oft daran denken, wie stark und gewaltig ihm sein Vater früher immer vorgekommen war. Nun scheint er in sich zusammenzufallen - zu schrumpfen wie ein Luftballon, in den man eine Nadel gestochen hatte.
Gerrit reicht ihm die Butter und nimmt sich noch eine Tasse Kakao. Seine Mutter pellt gerade ihr Ei,