Eine unglaubliche Welt. Sabine von der Wellen
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Gerrit war es natürlich unangenehm gewesen, dass er von seinem Nachbarn dort draußen erwischt worden war. Er wusste, dass seine Eltern fürchterlich toben würden, wenn sie davon wüssten. Der ganze Ort war damals sowieso schon genug in Aufruhe, weil man immer noch nicht die verschwundenen Kinder gefunden hatte.
„Ich habe mich, glaube ich, verfahren. Ich wollte zu einem Klassenkameraden“, hatte Gerrit seinen Nachbarn angelogen und Stefan war kurzerhand ausgestiegen, hatte Gerrits Fahrrad in den Kofferraum geworfen und Gerrit auf den Beifahrersitz gepflanzt. „Nah, dann ist es ja gut, dass ich hier gerade vorbeigekommen bin.“
Vielleicht war es das wirklich!
Er lieferte Gerrit zu Hause ab, der bedröppelt in sein Zimmer geschlichen war. Er hatte damals wegen der armen Katze ein wirklich schlechtes Gewissen gehabt.
Als Nina mit ein paar Keksen in sein Zimmer kam, erzählte er ihr von dem Tier und er sagte ihr auch, dass die Katze ihm vielleicht ihre Babys zeigen wolle. Und Nina hatte sich genau nachgefragt, wo er alles wegen dem Tier herumgekurvt war. Doch er hatte sich an diesem Abend nichts dabei gedacht.
Am nächsten Tag hatte Gerrit sein Training und konnte nicht nach dem Tier sehen. Doch er tröstete sich damit, dass er am darauffolgenden Tag wieder Zeit hätte.
Als er nach dem Training nach Hause kam, hatte er sich nichtsahnend an seine Hausaufgaben gesetzt und war danach zum Abendessen gegangen, zu dem seine Mutter gutgelaunt gerufen hatte.
Bis zu dem Zeitpunkt war ihre Welt noch in Ordnung. Dass sich das in kürzester Zeit ändern kann und das Schicksal da schon längst seinen Lauf genommen hatte, ohne dass irgendjemand noch etwas daran ändern konnte, erfüllt Gerrit noch jetzt mit einer Fassungslosigkeit, die ihn erkennen lässt, wie unberechenbar das Leben ist.
„Wo steckt Nina heute nur? Sie müsste doch schon längst zu Hause sein“, hatte seine Mutter gesagt und sein Vater war nach draußen gegangen, um sie zu rufen. Aber er fand Nina nicht. Auch nicht, als er die Straßen des Ortes abfuhr.
Seine Mutter hatte sich unterdes die Finger wund telefoniert. Aber keiner wusste, wo Nina steckte.
Gerrit hatte das ganze Haus nach ihr abgesucht und bemerkt, dass die Tüte mit der Katzenmilch nicht mehr an dem Platz lag, an dem er sie am Abend zuvor hingelegt hatte. Da war ihm ein schrecklicher Verdacht gekommen.
Er war damals mit pochendem Herzen und einer schrecklichen Angst um seine Schwester zu seinen Eltern gegangen und hatte ihnen von der Katze erzählt, die er bei Andreas gesehen hatte und die wohl irgendwo ihre Jungen versteckt hielt, die sie ihm zeigen wollte. Er deutete an, dass Nina sie vielleicht suchen gegangen war, weil er ihr von dem Tier erzählt hatte.
Er war daraufhin von seinem Vater ins Auto gezerrt worden und der fuhr mit ihm die Strecke ab. Die ganze Fahrt über hatte Gerrit sich die Beschimpfungen seines Vaters anhören müssen, die immer mehr mit bösen Worten bespickt wurden, je weiter Gerrit seinen Vater in Richtung Wald führte.
„Was, so weit bist du gestern gefahren?“, hatte sein Vater gerade getobt, als sie auf die Straße einbogen, die direkt am Wald vorbeiführte, und sie Ninas Fahrrad an einem Baum gelehnt dort stehen sahen, wo die Katze Gerrit in den Wald zu locken versucht hatte.
Er wird niemals den Blick vergessen, den sein Vater ihm in diesem Augenblick zuwarf.
Sie waren ausgestiegen und hatten Ninas Namen in den Wald gerufen. Gerrits Vater war weit in den Wald hineingelaufen, ohne von Nina etwas zu sehen oder zu hören.
Auch die Feuerwehr und Polizei, die sein Vater zur Verstärkung angefordert hatte, fanden Nina nicht. Auch die Katze blieb verschwunden. Es gab noch nicht einmal verwertbare Spuren, die überhaupt darauf hinwiesen, dass Nina den Wald betreten hatte. Auch die Theorie von der kinderlockenden Katze wurde bald mit einer wegwerfenden Handbewegung abgetan und eine neue Theorie schien sich zu erhärten. Demnach hatte ein Autofahrer sie an der Stelle mitgenommen, an der man ihr Fahrrad gefunden hatte. Warum sie allerdings so weit gefahren war, wusste keiner zu sagen. Vielleicht auf der Suche nach einer Phantomkatze, von der ihr Bruder ihr erzählt hatte.
Aber mit wie viel Nachdruck das Tier versucht hatte, Gerrit in den Wald zu locken, das weiß nur er selbst. Niemals wieder wurde er das Gefühl los, dass eigentlich er es hätte sein sollen, der der Katze damals folgen sollte - und nicht seine Schwester Nina.
Er hätte an ihrer Stelle verschwinden sollen, wie all die anderen Jungen.
Der Katze auf der Spur
Über dem Ort liegen erneut Trauer und Schrecken. Wieder ist ein Kind verschwunden und wieder findet man keine Spur von ihm. Gerrit hatte die letzten Basketballtrainings ausfallen lassen. Er kann einfach nicht mehr dort hingehen, seit Thomas Mehring verschwunden ist. Er fühlt sich schuldig, weil er selbst noch nicht den Mut gefunden hat, nach der Katze zu suchen, um ihr bis zum Ende zu folgen. Er fürchtet sich davor, was er entdecken wird und was ihm dann bevorsteht.
Doch seine Träume lassen ihn nachts kaum mehr zur Ruhe kommen. Er hat niemanden, mit dem er reden kann und es gibt niemanden, der ihn versteht. Seine Eltern scheinen immer weniger am Leben teilnehmen zu wollen. Tief in seinem Inneren glaubt er, dass sie ihm die Schuld an Ninas Verschwinden geben und dass sein Schicksal sie deswegen auch nicht mehr interessiert.
Weihnachten verlief noch trostloser als im letzten Jahr. Er bekam zwar Schlittschuhe, die er sich eigentlich immer gewünscht hat, doch der See, der den Ort schmückt, war in diesem Winter bisher nicht einmal zugefroren. Das erscheint ihm wie eine Bestrafung.
Sylvester vergeht wie jeder andere Tag. Es gibt kaum jemanden im Ort, der diesen Tag feiern, geschweige denn um Mitternacht den nächtlichen Himmel mit lauten Raketen und bunter Lichterpracht erhellen will.
Ankum scheint in einem trostlosen und verängstigten Dornröschenschlaf gefallen zu sein. Kein Kind darf mehr allein auf die Straße gehen und viele werden nach den Ferien sogar täglich in die Schule gebracht und wieder abgeholt.
Gerrits Eltern gehen nach wie vor ihrer Arbeit nach und allmählich ist er froh, dass sie erst spät abends nach Hause kommen. Denn nichts ist ihm unangenehmer, als sie so traurig und weltentrückt zu sehen. Das erhöht nur seine Schuldgefühle.
Seine Mutter sitzt abends wieder stundenlang auf Ninas Bett, den Blick starr ins nirgendwo gerichtet. Sein Vater verkriecht sich im Keller und baut angeblich an einem Modelschiff, das nie fertig zu werden scheint. Sie sind zu Marionetten geworden, wie so viele andere Eltern in Ankum auch.
Aber so achtet auch niemand darauf, dass er an den Nachmittagen immer öfter sein Fahrrad schnappt und durch die Gegend fährt. Die, die ihn sehen und das für Unverstand halten, sagen nichts. Es scheint fast so, als wären manche froh, dass er es ist, der als Köder allein durch die Gegend fährt und somit die eigenen Kinder verschont bleiben.
Ja, als Köder! Gerrit sieht sich mittlerweile auch schon so.
Er hat Angst! Doch etwas in ihm treibt ihn voran. Er will die Katze finden, sich vergewissern, dass es sie immer noch gibt und sie daher immer noch der Schlüssel zum Verschwinden der Kinder sein kann. Und was, wenn er sie findet? Er weiß es nicht.
So wird es Frühjahr. Die Sonderkommission der Polizei arbeitete bisher erfolglos an der Aufklärung der Fälle. Immer und immer wieder wurden Befragungen durchgeführt, die nichts erbrachten. Auch Thomas Mehring bleibt