Westdämmerung. Christian Friedrich Schultze

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Westdämmerung - Christian Friedrich Schultze Trilogie

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zuweilen recht unruhig gewesen. Das war aber längst in den Hintergrund getreten. Geblieben waren die tiefen Eindrücke, wie das kaum vier Wochen alte Kind bereits auf sie, die Eltern, die Jungs und die weihnachtliche Welt mit ihrer Musik, den Kerzen und Gerüchen reagierte. Er, der stolze, fünfzigjährige Vater, schob oder fuhr das Kind, verpackt im Schlitten oder im Kinderwagen, in den Tagen zwischen Weihnachten und Neujahr durch den Ort und die Umgegend, Gelegenheit für die stillende Sibylle, wenigsten für ein, zwei Stunden ein wenig ausspannen und an sich denken zu können.

      Die Jungs großen wollten den Schwesterchen-Ausfahrdienst in jenen Tagen allerdings nicht übernehmen. Das käme ihnen zu blöde vor, waren sie sich einig. Stattdessen übernahmen sie zusammen mit Katerina längere Ausflüge auf Lausche und Weberberg, die in jenem Jahr im tiefverschneiten Winter lagen. Lothar, der Outdoorerfahrene, gab den Ton an und bemühte sich redlich, zu einem guten Klima zwischen allen Familienmitgliedern beizutragen und sowohl Sibylle wie auch Christian näher kennenzulernen. Er hatte damals Wauers ehemalige Berliner Wohnung übernommen und war mit der zwanzigjährigen Katerina dort eingezogen.

      Die Freundin studierte an der Humboldt-Universität im zweiten Jahr Anglistik mit gelegentlichen Ausflügen in Archäologievorlesungen und Lothar überlegte gerade, ob er ein Meisterstudium beginnen sollte. Er hatte in Frankfurt an der Oder den Tischlerberuf erlernt und arbeitete derzeit bei einer größeren Ausbaufirma auf diversen Berliner Baustellen.

      Wauer kannte Katerina kaum, hatte sie eigentlich erst einmal in Berlin getroffen, als er ein Wochenende am Friedrichshain bei den Schillers verbracht hatte und er sie und Lothar bei dieser Gelegenheit einmal zu einem Abendessen ins neueröffnete Il Pane e le Rose eingeladen hatte. Die blonde, rehäugige Schönheit hatte in ihren Pumps fast an Lothars Länge herangereicht, war Wauer aber eher etwas zu vollbusig und zu selbstbewusst erschienen. In jenen Tagen war er vorrangig bemüht gewesen, eine erste Beziehung zu Christian, Sibylles Sohn, aufzubauen.

      Christian war am 1. September gerade 18 Jahre alt geworden. Er war etwas größer als Lothar, schlank gewachsen wie seine Mutter und Hobbyfußballer. Über Fußball wusste er fast alles. Außerdem war er Herthafan. Mithilfe des Themas Fußball konnte Wauer Anknüpfungspunkte herstellen. Während seiner Berliner Zeit war er natürlich immer Eisern-Union-Fan gewesen und immerhin war Christian daran interessiert zu erfahren, wie es mit dem 1. Fußballclub Union Berlin im Stadion an der Alten Försterei in Berlin-Köpenik in den Jahren vor der Wende gegangen war.

      Christian war zwar offiziell mit in Großschönau gemeldet, wohnte aber weiterhin überwiegend bei seiner Tante und seiner Nichte Claudia in der Strausberger Straße, da im Frühsommer sein Abitur bevorstand und er dazu natürlich an seinem Immanuel-Kant-Gymnasium in Berlin-Lichtenberg bleiben wollte. Die „Großen“ hatten damals alle damit begonnen, ihren eigenen Weg in die westliche, so genannte freie, soziale Marktwirtschaft aufzunehmen. In jenen Jahren, so dachte Wauer jetzt zornig, war es noch die soziale Marktwirtschaft des katholischen linksrheinischen deutschen Nachkriegskapitalismus Ludwig Erhards gewesen.

      Das war jetzt längst Geschichte!

      Zu diesem ersten Jahreswechsel in ihrem neuen Heim hatte Wauer die große wie die kleine, lokale Politik trotz der sich anbahnenden Schneideraffäre wirklich beinahe einmal vergessen. Er hatte sogar die Zeit gefunden, ein wenig in den beiden Büchern zu lesen, die er zu Weihnachten bekommen hatte. Lothar hatte ihm von Otto Heinrich Muck „Alles über Atlantis“ geschenkt. Derzeit interessierte er sich, offenbar von Katerina inspiriert, für alte Geschichte, ganz uralte, vor allem die der frühen Imperien der Ägypter, Griechen und Römer, ganz besonders aber für die gänzlich rätselhaften und unerforschten Zeiten vor der so genannten Sintflut.

      Der in Wien geborene Professor Muck, der als Geophysiker und Ingenieur bei Wernherr von Braun in Peenemünde gearbeitet hatte, galt als einer der einflussreichsten Atlantis-Forscher des 20. Jahrhunderts und Lothar und Katerina waren seinen Theorien offenbar ziemlich verfallen. Muck behauptete, wie einige andere Altertumsforscher auch, dass es bereits Jahrtausende vor den Ägyptern eine atlantische Hochkultur gegeben habe, von deren Überresten Ägypten und Hellas abstammten und dass der Platon-Bericht deshalb wörtlich genommen werden müsse. Dafür sammelte er alle verfügbaren geophysikalischen und sonstigen Indizien und trug diese in mehreren Bücher in die Öffentlichkeit. Jedenfalls hatte Lothar gewollt, dass der Vater die seiner Meinung nach bahnbrechenden Erkenntnisse des Österreichers über die „Welt vor der Sintflut“ doch wenigstens einmal zur Kenntnis nähme, bevor er sie in Bausch und Bogen ablehne.

      Sibylle hatte ihm das gerade vieldiskutierte Buch „Das Ende der Geschichte“ des amerikanischen Geschichts- und Politikwissenschaftlers Francis Fukuyama auf den Gabentisch gelegt. Darin vertrat der in Kyoto geborene US-amerikanische Politikberater und spätere Professor für Politikwissenschaften an äußerst konservativen US-Universitäten die These, dass sich die „Geschichte“ nun erfüllt habe, indem die totalitären Systeme des Faschismus und Kommunismus gescheitert seien, weil sie dem Grundgedanken des Liberalismus zuwider liefen. Nun werde die liberale Informationsgesellschaft die Industriegesellschaft ablösen und weltweit die Bildung einer humanistischen Gesellschaft befördern.

      Das fand Wauer damals einleuchtend, wenn man davon ausging, dass der Marxsche Kommunismus tatsächlich durch einen demokratischen Liberalismus ersetzt werden könnte und er bedauerte sich ein wenig bei dem Gedanken, dass ihm seine Liebsten ohne voneinander zu wissen, zwei wunderbar entgegengesetzte Werke zur Erklärung des Planeten geschenkt hatten, er jedoch kaum Zeit haben würde, sich mit diesen Themen ausreichend gründlich auseinander zu setzen.

      Jedenfalls hatte Wauers neue Familie in diesen Tagen die Außenwelt ziemlich erfolgreich ausgeschlossen und er war Ende 1995 der glücklichste Mann der Welt gewesen. Immerhin hatte er die Tagesnachrichten wenigstens soweit verfolgt, dass sie sich über das Friedensabkommen von Dayton freuen konnten, das dazu dienen sollte, die blutigen Auseinandersetzungen der jugoslawischen Völker, die seit Anfang der neunziger Jahre hin und her gingen und auf dem Balkan unendlich viele Opfer gefordert und ungeahnte Grausamkeiten hervorgebracht hatten, endlich zu beenden.

      Und noch etwas Neues gab es in dieser weihnachtlichen Woche in der Villa an der Großschönauer Bahnhofstraße: Die C. Bechstein Pianofortefabrik AG Berlin hatte 1992 die frühere Gebrüder Zimmermann Klavierfabrik zu Seifhennersdorf übernommen, modernisiert und weitergeführt. Darüber hatten sich nicht nur die Seifhennersdorfer Einwohner, sondern auch alle Mitglieder des Zittauer Kreistages gefreut, weil damit wertvolle Arbeitsplätze für eine Reihe hochqualifizierter Klavierbauer der Region erhalten werden konnten. Wauer hatte im Zuge einiger Beratungen den neuen Geschäftsführer des Werkes kennengelernt und durch dessen Vermittlung einen preiswerten, restaurierten Viertelflügel der Firma Bechstein erwerben können. Diesen machte er natürlich zur Hauptattraktion jenes Weihnachts- und Einzugsfestes jenes glücklichen Jahres, indem er am Heiligen Abend eine fulminante Enthüllungsaktion des bis dahin sorgfältig verpackten Instruments zelebrierte. Immerhin beherrschten er, Sibylle, Christian und Katerina ein wenig das Klavierspiel und eines gar nicht so fernen Tages, so hatte es Wauer insgeheim längst beschlossen, würde seine Tochter Maren auf diesem Instrument das Klavierspiel erlernen.

      Doch zunächst genoss er in den folgenden Jahren das Heranwachsen des Kindes und wunderte sich, dass er kaum noch diesbezügliche Erinnerungen an die Vorschulzeit seines Großen besaß. Hatte er das Wunder der Kindheitsentwicklung aufgrund seines Alters, also seiner „Reife“, bei der Tochter so viel bewusster wahrgenommen?

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