Westdämmerung. Christian Friedrich Schultze
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Der Anruf, dass es endlich soweit war, erreichte ihn während einer Sitzung des Bauausschusses, welcher an diesem Abend im schönen Neorennaissancebau des Zittauer Rathauses stattfand. Der Zittauer Carl August Schramm, ein Schüler des Preußen Friedrich Schinkel, hatte es nach den 1833 von Schinkel erstellten Entwürfen im Auftrag des Zittauer Rates ebenso wie die im Siebenjährigen Krieg zerstörte Johanniskirche wieder aufgebaut. Sibylles Schwester Christin war am Apparat gewesen. Wauer war froh, dass er an diesem Abend noch in der Kreisstadt geweilt hatte, und sich nicht bereits zuhause in Großschönau befand.
Er verließ die Sitzung unverzüglich, nachdem er seinem Skatbruder und Kreisratskollegen Heyer sowie dem Vorsitzenden den Grund für seinen hastigen Aufbruch mitgeteilt hatte. Kurz vor 22 Uhr erreichte er Berlin. Die Schwestern warteten bereits auf den Krankentransport. Wauer hatte einen neuen Rekord aufgestellt, indem er es vom Zittauer Rathaus in die Strausberger Straße in Berlin Friedrichshain in zwei Stunden und 25 Minuten schaffte. Das verdankte er dem „Aufbau Ost“ und der Tatsache, dass an diesem Dienstagabend sowohl auf der B 115 nach Forst wie auf der neuen „Spreewaldautobahn“ nur wenige PKW und LKW unterwegs gewesen waren.
Kaum hatte er Sibylle das Begrüßungsküsschen verabreicht, klingelte der Krankentransporter, der auch Sibylles Tasche mitnahm. Wauer fuhr die kurze Strecke zum Friedrichshainer Krankenhaus gemeinsam mit Christin hinterher. In den zweiten Stock zur Entbindungsstation gelangten alle gemeinsam mit dem Aufzug. Nur während der Aufnahmeformalitäten und der Einweisung Sibylles in ihr Zimmer wurden sie für ein paar Minuten getrennt.
Während die Zeitabstände zwischen den Wehen immer kürzer wurden, machten die Schwestern noch einmal eine Ultraschallaufnahme und Wauer und Christin konnten zusammen mit der Niederkommenden das ihnen auf dem Bildschirm riesig vorkommende Kind betrachten, das nun mit Macht in diese Welt drängte.
Dann erschien die ihnen bereits aus den Geburtslehrgängen bekannte Hebamme und erläuterte dem Paar noch einmal die adäquaten Verhaltensweisen für den optimalen Ablauf der Geburt. Sibylle wurde gefragt, ob sie noch einmal ein schönes warmes Bad wünsche. Davon erhoffte sie sich, inzwischen ziemlich regelmäßig von krampfartig schmerzhaften Wehen heimgesucht, offenbar einige Linderung. Wauer auf der einen und Christin auf der anderen Seite der Wanne hielten Sibylles Hände. Mittlerweile zeigte die Uhr zwei. Es war nun bereits der 15. November, ein Mittwoch.
Sie erfuhren, dass zur gleichen Zeit noch zwei weitere Geburten vorbereitet wurden, bemerkten aber nichts weiter davon. Nur die Hebamme war anscheinend schwer beschäftigt, kam jedoch noch einmal kurz nachsehen und empfahl, dass die Gebärende lieber noch einmal aufstehen und so lange wie möglich herumlaufen sollte, bis sich der Muttermund signifikant geöffnet habe und der Fruchtblasensprung bevorstehe. Sibylle gehorchte, und einen etwas großen, weißen Bademantel des Krankenhauses um sich geschlungen, wanderten die Drei eine Weile den Korridor der Entbindungsstation auf und ab.
Wauers Herz schlug bis zum Hals und Sibylle stöhnte jetzt laut bei jedem neuen Wehenschub. Schließlich war es endlich soweit. Die Fruchtblase war offenbar aufgegangen, denn eine gelbliche Flüssigkeit war an Sibylles Schenkeln heruntergelaufen. Wauer und Christin gerieten in helle Aufregung, während die herbeigerufene Hebamme ganz gelassen blieb. Sibylle hingegen schien offenbar schon in einer anderen Welt zu weilen.
Ins Geburtszimmer durfte nur noch Wauer mit, der zu diesem Zweck einen grünen Kittel übergestreift bekam, nachdem er sich gründlich die Hände gewaschen hatte. Er war plötzlich ganz ruhig geworden. Diesen Zustand kannte er von seiner Armeezeit her. Immer in brenzligen Situationen überkam ihn seither eine kalte Ruhe, als ob jemand seine Emotionen und seinen Stoffwechsel von außen steuernd herunterfahren würde. So war es auch jetzt, während er gleichzeitig erstaunt beobachtete, welch verdammtes Arschaufreißen für eine Frau eine Geburt tatsächlich bedeutete.
Ja doch! - Es waren schon mehrere Milliarden auf diesem Erdball geboren worden, dachte er. Und außer dem in Mode kommenden Kaiserschnitt gab es derzeit keine andere schmerzfreie Methode, einen Ableger auf diese Welt zu bringen. Dennoch, und obwohl sich Wauer das vor Augen hielt, war die Geburtsstunde seiner Tochter Maren eines der einschneidendsten Erlebnisse seines Lebens, und jedes Mal, wenn er in seinem weiteren Dasein seiner Tochter begegnete, stand dieser Moment, als er sie als winziges, schleimiges und blutiges Bündel zum ersten Mal in seinen Händen hielt, vor seinem geistigen Auge.
Anfangs hatte er nur Sibylles Hand gehalten, während sie versuchte, die vortrainierten Atemübungen zu absolvieren. Dann, als das erfahrene Auge der Hebamme gesehen hatte, dass es wirklich ernst wurde, widmete sie sich voll und ganz der Gebärenden. Sie hatte eben noch kurz telefoniert und durchgegeben, dass der diensthabende Arzt „oben“ bleiben könne, da hier alles normal verlaufe. Das fand Wauer nun überhaupt nicht! Aber die Hebamme „couchte“ Sibylle beim Endspurt des Geburtsvorganges wie ein erfahrener Trainer, indem sie sie mehrmals regelrecht anschrie und forderte: „Atmen - pressen - atmen - pressen - atmen - pressen!“
Dann befahl sie Wauer: „Los Martin, helfen Sie mal!“ Dabei nahm sie sein Handgelenk als ein Gegenlager, legte ihren Unterarm wie eine Rolle auf den hohen Leib der Gebärenden und drückte ihn mit voller Kraft von oben nach unten durch. Auch Wauer befand sich während dieser Gewaltprozedur im „Urmodus“. Und dann lächelte die Hebamme:. „Sehen Sie, da ist sie schon!“ Mit beiden Händen hatte sie das schwarz beflaumte Köpfchen ergriffen und das gesamte Baby mit einer geschickten Drehung in die Welt befördert.
„Na, nun kommen Sie, Martin. Herzliche Gratulation! Ein ganz wunderbares Töchterchen. Warten sie noch einen kleinen Moment, bevor sie die Nabelschnur durchtrennen. Inzwischen können Sie schon mal ihrer Frau gratulieren. Sie ist eine Heldin!“
Das empfand Wauer ehrlichen Herzens ebenfalls. Natürlich sagte die Hebamme so etwas jedem Paar nach einer erfolgreichen Entbindung. Dennoch war es wahr und richtig! Nach einigen Minuten gab sie ihm die Schere und Wauer vollzog diesen notwendigen, aber deshalb nicht minder symbolträchtigen Schnitt. Dann nahm der das mit einem sterilen Tuch umwickelte Menschlein und zeigte es seiner Liebsten, die bereits wieder voll aufnahmefähig schien. Sie legte es ein paar Sekunden an ihre Brust und begrüßte mit einigen für Wauer unverständlichen Worten ihre Tochter.
„Sie können jetzt ihr Baby säubern und waschen. Was jetzt noch kommt, müssen Sie nicht unbedingt sehen“, befahl die Hebamme und Wauer tat, wie ihm geheißen und wie er es im Lehrgang hatte üben müssen. „Keine Angst, das Baby ist stabil, das hält was aus.“ In diesem Moment gab das Kind die ersten Laute von sich und fing alsbald zu schreien an.
Es war geschafft! Die Uhr zeigte kurz vor drei.
5.
Hatte er jemals in seinem darauf folgenden Leben noch ein solch schönes Weihnachten erlebt, wie Ende des Jahres 1995? Wauer konnte sich nicht erinnern und glaubte es auch nicht.
Damals war ja auch alles Gute zusammengetroffen: Die Geburt seiner Tochter Maren kurz zuvor, der Einzug der neuen Familie in die fertig renovierte, geräumige und wunderschöne Villa in der Bahnhofstraße, die beiden Großen, Christian, Sibylles Ableger, sein Sohn Lothar mit Freundin Katerina, die zu den Feiertagen bis zum 30. Dezember dagewesen waren, die ruhigen, schönen, winterlichen