Westdämmerung. Christian Friedrich Schultze

Чтение книги онлайн.

Читать онлайн книгу Westdämmerung - Christian Friedrich Schultze страница 7

Westdämmerung - Christian Friedrich Schultze Trilogie

Скачать книгу

das erst einige Jahre später zum "Berliner Konzerthaus“ avancierte, hatte es für Parlamentarier, Regierungsmitglieder und internationale Gäste an jenem Vorabend des Tages der Wiedervereinigung außer der bewegenden Aufführung von Beethovens 9. Symphonie unter dem tapferen Leipziger Konzertmeister Kurt Masur eine Ansprache Lothar de Maizières gegeben. Der scheidende Ministerpräsident verband darin vierzig Jahre DDR-Geschichte mit einem Ausblick auf das geeinte Deutschland. Mauer, Stacheldraht und Staatssicherheit hätten den Sozialismus zum Knüppel verkommen lassen, zitierte er den großen Tschechen Vaclav Havel. In der Zukunft habe man es mit den hoffnungsvoll veränderten Bedingungen von Freiheit, Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und sozialer Gerechtigkeit zu tun, die höher einzuschätzen seien als die materiellen Vorteile, die für die DDR-Bevölkerung nach vielen Entbehrungen verständlicherweise nun so leicht in den Vordergrund rückten. Das in hohem Ansehen stehende Grundgesetz habe als Grundprinzip des Rechts eine verantwortete Freiheit, die es von jedem Einzelnen auszufüllen gelte.

      „Die Freiheit ist der beste Förderer unserer individuellen Fähigkeiten; sie gehört zugleich zu den größten Prüfungen des menschlichen Charakters. Sie für sich und zugleich auch im Sinne des Gemeinwohls zu verwirklichen, ist eine faszinierende Aufgabe für uns alle. Nicht was wir gestern waren, sondern was wir morgen gemeinsam sein wollen, vereint uns zum Staat. Von morgen an wird es ein geeintes Deutschland geben. Wir haben lange darauf gewartet, wir werden es gemeinsam prägen, und wir freuen uns darauf“, hatte de Maizière formuliert und alle, auch Wauer, hatten begeistert und lange applaudiert.

      Dann, am späteren Abend, bei der folgenden Feier im Deutschen Reichstag, hatten ihn die Emotionen endgültig übermannt, als ihm zutiefst bewusst wurde, dass er tatsächlich an einem revolutionären Umbruch der Weltgeschichte teilnahm, hier, an der Kampf- und Nahtstelle zweier sich jahrzehntelang feindselig gegenüberstehenden, antagonistischen Imperien. Von einem Balkon des geschichtsträchtigen Gebäudes beobachtete er mit seinen Kollegen das prächtige Feuerwerk, das eine neue Ära der deutschen Geschichte einläutete. Er konnte nichts dagegen machen, er musste weinen vor Freude.

      Wauer hatte lange Jahre inständig gehofft, dass es so kommen würde und hatte seine Hoffnungen auf ein freies, geeintes Deutschland in Erfüllung gehen sehen. Heute, fünfunddreißig Jahre später, beurteilte er vieles gänzlich anders.

      Freiheiten

      1.

      Wauer versuchte die Freiheiten, die nun durch die ostdeutschen Lande rauschten, so weit wie möglich in die Tat umzusetzen.

      Da war die Redefreiheit, die er schon in der kurzen Zeit, in der er in der Volkskammer und im Bundestag tätig gewesen war, allerdings in sehr modifizierter Form, genossen hatte. Und die Koalitionsfreiheit, die sie sich bei der Gründung der Ost-SDP im Oktober 1989 einfach genommen hatten, ebenso, wie die Versammlungsfreiheit. Selbstverständlichkeiten für die Westdeutschen Brüder und Schwestern; welche in der Verfassung der DDR übrigens ebenso garantiert gewesen waren, wie im westdeutschen Grundgesetz. Nur hatte in den vierzig Jahren der sowjetischen Besatzungszeit niemand ausprobiert, ob man sie auch verwirklichen konnte. Erst als Gorbatschow Glasnost und Perestrojka verkündet und damit klar gemacht hatte, dass die Sowjetunion das Honecker-Regime nicht mehr stützen würde, war im Herbst 1989 die Probe aufs Exempel möglich geworden. Und deshalb spürte er die Wirklichkeit dieser Freiheiten jetzt beinahe körperlich.

      Wenn er es aber recht bedachte, war seine Rede- und Koalitionsfreiheit bereits im Bonner Wasserwerk erneut begrenzt worden. Weder in den Fraktionssitzungen, noch in den zwei einzigen Reden, die er dort vor dem höchsten deutschen Plenum halten musste, hatte er wirklich öffentlich sagen können, was seine tatsächliche Überzeugung zum Thema gewesen war. Es waren Rücksichten zu nehmen und Taktiken zu beachten! Und auch im freien Westen war „political correctness“ einzuhalten!

      Wenn er etwas richtig fand, was die Christdemokraten oder die PDS-Linken einbrachten, durfte er das nicht verteidigen, geschweige denn, mit ihnen gemeinsam abstimmen. Da war Fraktionseinheit geboten! Das konnte man vielleicht nicht direkt Fraktionszwang nennen, doch Wauer spürte den Gruppendruck deutlich und musste sogar einsehen, dass es anders auch schwierig würde. Dennoch störte ihn diese Art der freiwilligen Selbstzensur, die er auf noch wesentlich unangenehmere Weise aus der DDR-Zeit kannte, wo jedermann das Orwellsche „Zwiesprech“ gut beherrschen gelernt hatte.

      Das Gleiche setzte sich im Kreistag fort. Hier war es insofern schlimmer, als die Kreisräte formalrechtlich gar keine echte Legislative bildeten, sondern Mitglieder der Kreisverwaltung darstellten. Zwar war es hier einfacher, einen freien Redebeitrag zu einem der vorwiegend lokalpolitischen Probleme abzugeben, aber die Macht, die Verwaltung zur offenen Darlegung ihrer Vorhaben oder zur Öffnung ihrer Verträge und Protokolle zu zwingen, war in dieser Körperschaft noch eingeschränkter, als er das im Bundestag erlebt hatte. Daraus ergaben sich andauernde Auseinandersetzungen mit dem Landrat und seiner Verwaltung, bis hin zur Bemühung der Verwaltungsgerichtsbarkeit, die es inzwischen immerhin bereits gab.

      So versuchte Wauer jetzt vor allem, seine Gewerbefreiheit zu genießen. Seine „Sachsenprojekt GmbH“ entwickelte sich hervorragend. Bald musste er einen Bauleiter einstellen, welcher ihm die Arbeiten des Baucontrolling vor Ort abnehmen konnte. Das wiederum erforderte mehr Abstimmungsarbeit. Die Gewerbefreiheit erwies sich bald als eine ziemlich stressige Angelegenheit und irgendwie lief jetzt eben alles gänzlich anders, als in den volkseigenen Betrieben!

      Aber die Reisefreiheit! Mit seinem neuen Pass und dem neuen Geld hätte Wauer sogar nach Nordkorea reisen können. So weit wollte er aber gar nicht. Und vor allem reichte seine Zeit dafür nicht aus. Länger als eine Woche konnte er sein Planungsbüro überhaupt nie alleine lassen. Dennoch hoffte er, die großen Träume seiner Jugend, die Besteigung des Matterhorns, einen Besuch der Insel Helgoland, auf der Hoffmann von Fallersleben das Deutschlandlied gedichtet hatte, und einen Besuch Roms, der ewigen Hauptstadt des Abendlandes, alsbald in die Tat umsetzen zu können.

      Zunächst war, wie verabredet, ein Besuch seines Cousins und dessen Familie in München geplant. Von da aus auf die Zugspitze zu gelangen, das war sein nächstes Ziel. Ostern 1993 sollte es unbedingt werden. Doch Robert war krank geworden und so war Wauer mit Sohn Lothar eine kurze Woche in die noch verschneiten Dolomiten zum Skilaufen gefahren. Sella-Ronda war ein großartiges und neuartiges „Ersatzerlebnis“ gewesen.

      Die Reise nach Bayern hatte dann aber doch im September jenes Jahres stattgefunden. Es war für ihn, Sibylle und ihren fast sechszehnjährigen Sohn Christian eine großartige Woche gewesen: Zum ersten Mal in ihrem Leben besuchten sie bei der Gelegenheit das weltberühmte Oktoberfest in München und wunderten sich über die dortigen astronomischen Preise. Dann fuhren sie mit der Zugspitzbahn bei herrlichstem Frühherbstwetter auf den höchsten deutschen Alpengipfel und unternahmen einige Bergwanderungen im Wettersteinmassiv, darunter Besuche im Höllental- und in der Partnachklamm. Ein Besuch Garmischs, Grainaus und eine Umrundung des Eibsees durften natürlich auch nicht fehlen.

      Das war Deutschland! Das waren die Gefilde, die sein Vater seit seiner Jugend gekannt und geliebt hatte und von denen er immer wieder die Schwarzweißabzüge seiner früheren Reisen und die neueren "Buntfotos" hervorgeholt hatte! Nach dieser Fahrt sah sich Wauer alle Bildbände an, die er vom Vater geerbt hatte, und konnte nun alles wiedererkennen.

      Mit der Reisefreiheit waren endlich auch sie, die Nachkriegsgeborenen Mitteldeutschlands, in der Lage, die westliche Hälfte des nach dem Krieg übrig gebliebenen deutschen Vaterlandes kennenzulernen. Wauer hatte eine Menge Ziele seines wiedervereinigten Vaterlandes im Kopf: Mosel und Rhein zuerst, Berchtesgaden und das Allgäu, Nord- und Ostfriesland und die Nordseeinseln, noch einmal den Schwarzwald und den Feldberg, wo er mit seinen Eltern noch vor dem Mauerbau als Zehnjähriger einen Kriegskameraden seines Vaters in Schramberg besucht hatte.

      Die Ostdeutschen fuhren

Скачать книгу