Westdämmerung. Christian Friedrich Schultze
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„Na ja, ich kriege über die dortigen Bekanntschaften einen Teil der Planungsaufträge. Über diese Schiene kommen eben einige Leute auf mich zu, besonders Wohlhabende aus dem Westen, die aufgrund der Steuersparmodelle, die die Bonner Regierung aufgelegt hat, hier investieren wollen. Sie haben zum Beispiel in Görlitz ganze Straßenzüge aufgekauft und fangen an, sie von Grund auf zu sanieren, einschließlich aller Medien und der maroden Abwassersysteme. Auf diese Weise wird endlich unser Wohnungsproblem gelöst. Tiefbau war schon in ‚Schwarze Pumpe‘ mein Metier. Jetzt ist es eine einträgliche deutsch-deutsche Zusammenarbeit.“
„Ist doch prima oder?“
„Vielleicht ist das der wahre Grund, weswegen die Russen dem Abzug zugestimmt haben. Hier war fast alles Schrott und lag darnieder. Für sie war am Ende nichts mehr zu holen.“
Mittlerweile waren sie auf dem Gipfelplateau angekommen. Hier hatte sich seit Wauers letztem Besuch nichts verändert. Bis jetzt war glücklicherweise noch niemand auf den Gedanken gekommen, auf den Grundmauern der abgebrannten und inzwischen längst zerfallenen ehemaligen Lauschegaststätte eine neue Bergbaude zu errichten.
Wie Wauer es erwartet hatte, gab es eine wunderbar klare Rundsicht von diesem höchsten südöstlichen Gipfel der neuen gesamtdeutschen Republik. Ringsum lag das weite Land: Böhmen im Süden mit seinen vulkanischen Magmagipfeln, die ostsächsischen Berge im Norden, mit ihren bewaldeten Kämmen, die die Wasserscheiden des Oberlausitzer Landes der Flüsse zwischen Ostsee und Nordsee bildeten. Auf den Bergrücken im Osten dagegen waren die Verheerungen der Nadelwälder durch die Abgase der tschechischen Industrie unübersehbar. Es war kurz nach sechs und die Sonne stand tief und rot über den westlichen Bergkämmen. Die Dämmerung hatte sich angeschickt, die Nacht herbeizurufen.
Plötzlich lagen sich beiden Vettern in den Armen. Wauer wähnte, in den Augen Roberts Tränen gesehen zu haben. Auch er war sich der Einmaligkeit dieses Momentes bewusst gewesen: Dieser Punkt der Erde, an dem sie sich befanden, würde, wenn nicht ewig, aber doch noch sehr lange bestehen, während sie beide, die bereits über den Zenit ihres Lebens hinaus waren, mit etwas Glück vielleicht noch drei Jahrzehnte vor sich hatten. Es war ziemlich ungewiss, dass sie noch einmal zusammen hier oben stehen würden. Das hatten die beiden Männer damals instinktiv gefühlt.
„Man müsste in die Zukunft schauen können, dann könnte man vielleicht sinnvollere Entscheidungen treffen“, meinte Robert.
„Du weißt, dass das Mist wäre!“
„Ja, aber bei dir habe ich manchmal das Gefühl, dass du es kannst. Damals, bei unserem Treffen in Prag war es, glaube ich, hast du jedenfalls gemeint, dass es durchaus so weit kommen könne, dass die Russen an der Lösung der deutschen Frage einmal ein größeres Interesse bekämen. Am meisten hat mich der Satz beeindruckt, den du von deinem Vater zitiert hast: ‚Im Osten geht die Sonne auf und im Westen ist ihr Untergang vorbereitet‘.“
„Das hatte er angeblich von seinem Geschichtslehrer. Der hatte aber meines Erachtens China damit gemeint. Dass sie in Form von Glasnost und Perestrojka aufgehen würde, habe ich damals beim besten Willen nicht ahnen können. Nee, ich analysiere nur, möglichst ohne meine Wunschvorstellungen dominieren zu lassen. Da kommen manchmal merkwürdige Dinge heraus.“
Die beiden genossen ein Weile die weite Aussicht. Niemand außer ihnen war noch an diesem Nachmittag heraufgekommen.
„Denkst du nicht, dass der Untergang der Kernindustrie, besonders der Braunkohlenförderung, eure Heimat auf Jahrzehnte zu einer armen Region machen wird?“
„Das hat uns Oskar Lafontaine schon voriges Jahr in einigen Nachtdiskussionen eindringlich nahe gebracht. Aber das ist wohl unvermeidlich. Übrigens hält die Abwanderung jugendlicher, gut ausgebildeter Facharbeiter nach dem Westen auch nach der Vereinigung unvermindert an.“
Sie schwiegen wiederum eine Weile und beobachteten, wie die Sonne langsam hinter den westlichen Bergrücken verschwand. Es war ein außergewöhnlicher Sonnenuntergang! Schade nur, dass sie nicht öfters auf diesem Berggipfel weilen konnten.
„Ihr müsst aber nun unbedingt bald mal zu uns nach München kommen. Dann machen wir zusammen einen Ausflug nach Garmisch und auf die Zugspitze.“
Für Wauer klang das immer noch, als redeten sie von Gegenden in fernen Ländern.
„Wir sollten gut aufpassen, dass wir nicht auf die Schnauze fallen, wenn wir jetzt im Halbdunkeln hier wieder `runtersteigen“, mahnte er.
Sie begannen den Abstieg hinunter zur Baude am Sonneberg, in der ihre Lieben auf sie warteten. Sie liefen dicht hintereinander und schwiegen. Die Dämmerung war schnell hereingebrochen und sie mussten sich ganz auf den Weg konzentrieren, um einen Unfall zu vermeiden.
4.
„Habt ihr in der Volkskammer oder im Bundestag je herausbekommen können, wer Rohwedder wirklich erschossen hat?“
Wauer sah Thomas wie elektrisiert an.
„Wieso? Zweifelst du an der offiziellen Darstellung unserer unabhängigen Rechtspflegeorgane?“
„Ja, ein bisschen schon . Was sollte die RAF denn für ein Motiv gehabt haben? Schließlich war er, nach allem was ich während der Wende von ihm gelesen habe, ziemlich anders als die üblichen Großmanager des Kapitals, wie zum Beispiel der damalige Arbeitgeberpräsident Hanns Martin Schleyer, den die RAF 1977 ermordet hat; oder auch als der Generalbundesanwalt Buback. Kanntest du Rohwedder näher? Schließlich hat ihn doch eure Volkskammer in das Amt des Treuhandchefs gehievt?!“
„Das war nicht ‚unsere Volkskammer‘ gewesen, sondern der Ministerrat der Noch-DDR unter Modrow im Juli 1990. Ich habe ihn ein paarmal in irgendwelchen Sitzungen gesehen bzw. reden hören. Persönlich kannte ich ihn jedoch nicht. Ich weiß nur, dass er kurz vor der Machtergreifung der Nazis in Gotha, also im damaligen Mitteldeutschland, geboren wurde und auch mal Vorstandschef der Hoesch-AG gewesen ist. In den siebziger Jahren war er wohl Staatssekretär im Wirtschaftsministerium unter Helmut Schmidt, ich glaube, sogar noch unter Graf Lambsdorff.“
Martin Wauer nippte an seinem Bier. Sie hatten sich eine Woche nach der Beerdigung seiner Mutter an einem Sonnabend im Biergarten in der Weinau getroffen. Thomas Deutscher hatte wohl bemerkt, dass es dem Freund nicht gut ging und ihn zu einem nachmittäglichen Miteinander ermuntert. Reden war immer gut, dass wusste auch Wauer, der durch seine Arbeit auch weiterhin übermäßig in Anspruch genommen war und kaum Zeit hatte, seine Freundschaften ausreichend zu pflegen. Hinzu kam, dass er möglichst schnell den Haushalt seiner Mutter auflösen musste.
In Großschönau hatte er kurz entschlossen eine der halb verfallenen, aber schönen, aus der Gründerzeit stammenden, Fabrikantenvillen erworben und begonnen, diese zu sanieren und zu modernisieren. Das tat er nicht nur, um mit seiner neuen Familie „standesgemäß“ wohnen zu können, sondern auch, um alles unterzubringen, was er nach Mutters Tod von den Eltern geerbt hatte, darunter einige schöne alte Möbel, aber vor allem eine Menge interessanter Bücher seines Vaters.
Es war ein schöner, sonniger Frühherbsttag. Die Bäume in der Weinau begannen bereits, ihr buntes Herbstkleid anzulegen. Zurzeit leuchteten die Blätter überwiegend gelb in der wärmenden Sonne. Sobald man jedoch in den Schatten geriet, dauerte es nicht lange und man begann zu frösteln.
„Die Sache nahm ja schon mit dem Staatsvertrag über die ‚Wirtschafts-, Währungs- und Sozialunion‘ und dann nochmal mit dem Einigungsvertrag