Westdämmerung. Christian Friedrich Schultze
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Rechtsanwalt Weizmann war etwa Mitte dreißig und ein hochgewachsener, schlacksiger Typ, der Wauer sehr an den verstorbenen Schauspieler Boy Gobert erinnerte, von dem auch in der DDR einige Filme gelaufen waren. Im Gegensatz zu diesem Mimen hatte Weizmann aber einen extrem kurzen Stoppelhaarschnitt, so dass man nicht heraus bekam, ob er blonde oder graue Haare hatte. Seine dunklen Augen blickten immer ernst, selbst wenn er lachte, was Wauer ziemlich seltsam fand. Der Westberliner empfahl ihm einige Literatur über Firmengründungen in den "neuen" Bundesländern und äußerte die Meinung, dass es ebenfalls hilfreich sei, wenn Wauer, der nunmehrige Oberlausitzer „Jungunternehmer“, das schöne alte deutsche Handelsgesetzbuch mal querlesen würde. Er ging davon aus, dass Wauer, als Abgeordneter beider deutschen Parlamente während diese Umbruchszeit, den Einigungsvertrag aus dem F.F. kannte, was aber gar nicht der Fall war, wie Wauer zugeben musste.
Dabei kam er auf die Idee, alsbald noch einmal den Buchladen am Ernst-Reuter-Platz in Berlin aufzusuchen, um dort die erforderliche Fachliteratur für seinen Planungsbetrieb einzukaufen. Er pendelte zu dieser Zeit ohnehin mehr oder weniger regelmäßig an den Wochenenden zwischen Zittau und Berlin hin und her.
Am 11. November 1989, als sie das erste Mal Westberliner Boden betraten, hatte er zusammen mit Sibylle Schiller in diesem Geschäft die ersten Büchereinkäufe in einem Westladen für ihr „Begrüßungsgeld“ getätigt. Mit den überwältigenden Eindrücken des riesigen Angebotes an Druckerzeugnissen aller Art in diesem „Literaturkaufhaus“ waren sie damals beglückt wie die Kinder mit ihren speziellen Erwerbungen wieder zu ihrer Freiheitsfeier in Jeans Franzosenkneipe am Schloss Charlottenburg zurückgekehrt.
Sibylle würde ihn sicher gern zu einer neuerlichen Einkaufstour dorthin begleiten. Jetzt, in dieser Umbruchzeit, in der aus allen Ost-Läden jegliche Ostware verschwunden war, konnte man in den heimischen Buchhandlungen noch längst nicht das umfängliche Sortiment finden, das er zum Einarbeiten in das neue System benötigte. Wauer freute sich über seinen Plan, alsbald an diesen Ort seiner ganz speziellen Erinnerung zurückzukehren.
Im übrigen hatte er eine gehörige Portion Angst vor seinem Schritt in diese ungewisse berufliche Zukunft. War es nicht reichlich blauäugig und verrückt, ohne jegliche Erfahrung der Selbständigkeit, ohne ausreichende Rechtskenntnisse und mit ziemlich begrenztem Wissen auf dem nicht allein im Tief- und Hochbauwesen hochentwickelten technischen Sektor, worüber er immerhin noch am besten Bescheid wusste, sondern mit all der Unkenntnis des unendlichen Drumherum, besonders auch des westdeutschen Rechnungs- und Steuerwesen, am bevorstehenden Konkurrenzkampf teilnehmen zu wollen? Schon entstanden überall zahlreiche Niederlassungen westdeutscher Firmen, darunter auch Architektur- und Bauplanungsbüros.
Auch die „Hochschule Zittau-Görlitz“ entwickelte mit der neu gebildeten Landesregierung des nunmehrigen „Freistaates Sachsen“ einen komplexen Entwicklungsplan und wurde gründlich umgekrempelt. Damit hatte sie einen gewaltigen Transformationsprozess zu absolvieren, welcher noch einige Zeit andauern würde. Doch bereits jetzt zog sie junge und leistungsfähige Studenten und Akademiker an, die Wauer durchaus als kommende Konkurrenz für sein „Start-up-Unternehmen“ ansehen konnte.
Wauer hatte es dennoch gewagt, in der Zittauer Neustadt ausgangs der Schulstraße ein sehr preiswertes, schmales, vierstöckiges Reihenhaus aus der Gründerzeit zu erwerben, um darin sein Planungsbüro unterzubringen. Es war neben der Villa in Großschönau sein zweites eigenes Sanierungsobjekt, ein schönes Gebäude im Neorenaissancestil, welches unter Denkmalschutz stand. In den über drei Etagen verteilten Räumlichkeiten konnte der nunmehrige „Arbeitgeber“ für seine Mitarbeiter anständige Arbeitsbedingungen herstellen. Für die Restaurierung und Modernisierung dieses Gebäudes gab es umfangreiche Fördermittel des Staates, so dass Wauer, der die Planungen und die Baukontrolle natürlich selbst übernahm, beinahe noch ein Plus bei dem ganzen Vorhaben machte.
Unverzüglich hatte Wauer auch mit dem juristischen Literaturstudium begonnen. Das Handelsgesetzbuch las sich wie eine Schrift aus dem 19. Jahrhundert. Und die war es im Grunde ja auch. Denn schon im Vorwort wurde man darüber informiert, dass das HGB am 1. Januar 1900, genau wie das Bürgerliche Gesetzbuch, das geltende Zivilgesetzbuch der BRD, in Kraft getreten war und bis heute galt. Natürlich waren beide Gesetzeswerke im Laufe der Jahrzehnte, vor und nach den beiden Weltkriegen, teilweise erheblich ergänzt und verändert worden, jedoch in ihren Grundzügen noch auf dem so genannten „Sonderprivatrecht ordentlicher Kaufleute Deutschlands“ gegründet. Vorgänger für das HGB, so las er, war das Allgemeine Deutsche Handelsgesetzbuch von 1861 gewesen, das noch von der Frankfurter Nationalversammlung beschlossen worden war. Vom 1871 nach der Reichsgründung gebildeten Reichsoberhandelsgericht in Leipzig war es weiterentwickelt worden und galt seinerzeit für alle Gebiete des Deutschen Reiches. Als eines seiner Vorbilder galt unter anderem Napoleons code de commerce von 1807. Wenn das keine Kontinuität ist, dachte Wauer staunend.
Beim Studium allein dieser interessanten Vorgeschichte des nun auch in den mitteldeutschen Bundesländern geltenden deutschen Rechts wurde ihm Angst und Bange. Außer mit dem HGB und den 2385 Paragraphen des Bürgerlichen Gesetzbuches musste er sich auch noch mit dem Strafgesetzbuch und dem GmbH-Gesetz einigermaßen vertraut machen. Das Strafrecht ging übrigens sogar direkt zurück auf das Jahr 1871, dem Jahr der Gründung des Deutschen Reiches, las Wauer in dessen Einführungsteil.
Alle drei nun im „Beitrittsgebiet“ geltenden großen bundesdeutschen Gesetzeswerke waren also erheblich älter, als das ebenfalls gegen die vergeblichen Widerstände einiger ostdeutscher Wendeaktivisten verbindliche bundesdeutsche Grundgesetz. Und nun galt das alles auch in den fünf neuen Bundesländern, und die ehemaligen DDR-Bürger waren gezwungen, dies und eine Menge anderes dazuzulernen.
Wauer war in jener Zeit ständig äußerst angespannt. Seine „Sachsenprojekt“ sollte eine Gesellschaft mit beschränkter Haftung werden. Das hatte ihm der freundliche Steueranwalt aus Dr. W.s Kanzlei geraten. Ob Wauer jemals nur „beschränkt“ haften würde, bezweifelte er. Im Augenblick tröstete es ihn auch wenig, dass es rund fünfzehn Millionen Landsleuten ähnlich erging wie ihm. Sicher, dass er es schon irgendwie packen würde, war er sich in jener Zeit jedenfalls überhaupt nicht gewesen.
Die fünfundvierzig Jahre seines ersten Lebens im stalinschen Spätfeudalismus des nun untergegangenen Sowjetimperiums, wie Wauer diese Ära bezeichnete, verschwanden rasend schnell im Orkus der Geschichte. Ein zweiter, aufregender, aber höchstwahrscheinlich sehr schwieriger, Lebensabschnitt stand nun nicht nur ihm bevor. Gut, dass die Zukunft eine Unbekannte ist, hatte er damals gedacht und sich wieder an einen ähnlichen Moment anlässlich der Feierlichkeiten zum Tag der deutschen Einheit am 3. Oktober 1990 erinnert, als in ihm eine erste Ahnung davon hochgestiegen war, welch revolutionärer Umbruch den Ostdeutschen tatsächlich bevorstand.
Jener Tag war in Wauers Leben von ganz besonderen Emotionen der Abschiede und Neuanfänge geprägt gewesen. Seinen Volkskammerkollegen war es wohl ebenso ergangen. Ein starkes Gefühl von Abschied hatte ihn nicht erst bei der Abendveranstaltung der scheidenden de Maizière-Regierung im Schauspielhaus am Gendarmenmarkt erfasst. Bereits am Vormittag, beim Festakt anlässlich der Auflösung des letzten DDR-Parlamentes im Palast der Republik, war ihm das zurückliegende Jahr seit der großen Kundgebung vom 4. November 1989 auf dem Alexanderplatz wie ein rasanter Traum vorgekommen.
Am frühen Nachmittag dieses denkwürdigen, schönen Oktobertages waren bereits die Stadtkommandanten der West-Alliierten vom Westberliner Senat feierlich verabschiedet worden. Ihre besondere Funktion als Träger der obersten Gewalt in der Westhälfte der Stadt ging damit offiziell zu Ende. Man hatte ihnen angesehen, dass der Rückzug aus diesen, für hohe Militärs sowohl einträglichen als auch seit langem recht ruhigen, Schutzmächte-Positionen