Westdämmerung. Christian Friedrich Schultze
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Am 3. Februar war auf einem Truppenübungsplatz bei Potsdam die feierliche Eingliederung verschiedener Truppenteile der ehemaligen Nationalen Volksarmee der DDR in die Bundeswehr erfolgt. Als Mitglied des Verteidigungsausschusses der letzten Volkskammer und des gesamtdeutschen Übergangsparlamentes hatte Wauer im Evaluierungsausschuss zur personellen Eignungsprüfung dieser DDR-Soldaten für ihren Dienst in der Bundeswehr mitgearbeitet und selber etwa zweihundertfünfzig NVA-Angehörige verschiedener Ränge und Waffengattungen interviewt. Er erinnerte sich an manche kuriose Begegnung und einige denkwürdige Gespräche.
Natürlich hatte er zu diesem Ereignis eine Einladung erhalten. Darum war er nach Potsdam gereist, um bei dieser Gelegenheit neben der aktuellen „Politelite“ noch einmal einige Ausschussmitglieder und frühere NVA-Soldaten zu treffen. Es folgten in jenem Jahr zahlreiche Gedenkfeiern aus Anlass des 50. Jahrestages des Endes des Zweiten Weltkrieges. Wauer hatte am 13. Februar auch an der Gedenkfeier der Totalzerstörung seiner Landeshauptstadt Dresden teilgenommen, an der auch Regierungsvertreter und Veteranen der Siegermächte teilnahmen. Der Streit um die Toten war erneut hochgeflammt. Manche nannten immer noch die Zahl von 225.000. Angaben über die Verwundeten gab es dagegen überhaupt keine und eine Differenzierung nach Alter, Geschlecht, Einheimischen und Flüchtlingen war nach den Feuerstürmen der Nächte vom 13. auf den 14. und noch einmal vom 14. auf den 15. Februar 1945 nicht möglich gewesen. Niemand konnte oder wollte die Menge der bei diesen Angriffen getöteten Kinder beziffern.
Später, im Jahre 2004, wurde schließlich eine „Historikerkonferenz“ beauftragt, die den Streit um die Opfer des „Dresdener Holocaust“ mit wissenschaftlichen Methoden beenden sollte. Man einigte sich auf 25.000 Tote, doch Wauer glaubte nicht daran. Die Bilder und Filmdokumente, die man unter anderem im Dresdener Verkehrsmuseum betrachten und sogar erwerben konnte, sprachen seiner Meinung nach eine andere Sprache. Wahrscheinlich lag die Wahrheit ungefähr in der Mitte, wie so oft in dieser Welt, wenn Machteliten an einer Verschleierung ihrer Verbrechen interessiert sind.
Deshalb war Wauer auch ein Gegner des Wiederaufbaus der Frauenkirche gewesen. Aus kirchgemeindlicher Sicht war eine weitere Kirche im Zentrum der Stadt überhaupt nicht erforderlich, weil direkt gegenüber am Altmarkt bereits die evangelische Kreuzgemeinde der ehrwürdigen Kreuzkirche mit dem weltberühmten Kruzianerchor residierte. Und die Dresdener Katholiken hatten ihre wunderbare Hofkirche, in der einst der konvertierte Polenkönig August der Starke das Hochamt genommen hatte.
Was Wauer als wesentliches Argument gegen einen Neubau erschien, war die Tatsache, dass damit das letzte, im wahrsten Sinne des Wortes „hervorragende“, Mahnmal des Kriegswahnsinns aus seiner Landeshauptstadt verschwand. Doch bereits 1991 war die „Stiftung für den Wiederaufbau Frauenkirche“ gegründet worden, die den gesamten Prozess leitete. Im selben Jahr hatte die sächsische evangelische Landessynode den Neuerrichtung der Frauenkirche rechtskräftig beschlossen. Willige Künstler, wie der Startrompeter Ludwig Güttler, spannten sich vor den Karren der Spendenkampagne, denn man behauptete, dass dieses Vorhaben allein mit Spendenmitteln finanziert werden würde. Dass auch staatlich anerkannte Spenden Steuermittel waren, ließ man dabei außer Acht. Im Rahmen seiner bescheidenen Möglichkeiten als Zittauer Kreistagsabgeordneter hatte Wauer damals dennoch versucht, gegen den vorgesehenen, historisierenden Wiederaufbau dieses einst unter der Leitung von George Bähr im Jahre 1743 vollendeten spätbarocken sakralen Monumentalbaus zu Felde zu ziehen.
Zu den weltweiten Gedenkfeiern zum Ende des Zweiten Weltkrieges waren erstmalig in der Nachkriegsgeschichte auch der deutsche Kanzler Kohl und Bundespräsident Herzog von den alliierten Siegermächten – USA, England, Frankreich und Russland – nach Paris eingeladen worden. Roman Herzog beschwor in seiner Ansprache besonders die Notwendigkeit von Völkerfreundschaft und Aussöhnung. Er brachte zum Ausdruck, dass das deutsche Volk die Masse der Gedenktage seiner Meinung nach würdig, aber unsentimental begehe. Die Schmerzen und das Elend von Flucht und Vertreibung von Millionen seien nun weitgehend ausgestanden. Und Deutschlands Aufteilung auf der Potsdamer Konferenz seien vor fünf Jahren endgültig korrigiert worden.
Alle Redner der deutschen und internationalen Politelite wiederholten immer wieder das gleiche Gelöbnis, dass von deutschem Boden nie wieder Krieg ausgehen sollte. Wieso eigentlich nur von deutschem Boden?, fragte sich Wauer. Denn ungeachtet dessen hatte es seit 1945 dutzende Kriege gegeben und der aktuelle der Krieg in Jugoslawien ging mit unverminderter Härte und mit deutscher Beteiligung weiter.
4.
Wauers Hochzeit mit Sibylle Schiller fand im Wonnemonat Mai jenes denkwürdigen Jahres statt. Es war in jeder Hinsicht ein perfekter, warmer Frühlingstag gewesen. So jedenfalls gab es Wauers Gedächtnis wider.
Ihre Trauung hatte am Vormittag des 20. Mai, einem Sonnabend, im Rathaus Berlin-Weißensee stattgefunden. Mittagessen und Kaffee hatte Wauer in einer Gaststätte am Fennpfuhl bestellt, nur wenige Schritte von der kleinen, versteckten Kirche entfernt, in deren Gemeinderäumen sie zusammen mit Alwin Ziel und den „Genossen“ des Wendeaufbruchs im September und Oktober 1989 eine Reihe von Versammlungen abgehalten hatten.
Am 8. April hatte er sein fünfzigstes Lebensjahr vollendet und das, so gut es ging, vor seinen Mitarbeiten und den Kreistagskollegen geheim gehalten. Er hatte damals weder Zeit noch wirklich Lust gehabt hatte, dieses „einschneidende“ Ereignis in einem größeren Rahmen zu begehen. Ein viel wichtigerer Grund war aber der, dass Sibylle ihm ein ganz besonderes Geheimnis anvertraut hatte...
Was für eine herrliche Braut war seine Sibylle an jenem sonnigen und warmen Wochenende gewesen! Mit ihren zweiundvierzig Jahren war sie vielleicht schon ein wenig über die Blüte ihres Lebens hinaus gewesen. Mit vierundzwanzig hatte sie ihren Sohn Christian bekommen. Das war in jener Zeit gewesen, als viele Menschen in der DDR gedacht hatten, es käme in Ostdeutschland so etwas wie ein demokratischer Sozialismus á la Alexander Dubcek auf, weil im Jahr 1976 Erich Honecker zum Staatsratsvorsitzenden ernannt worden war. Seitdem versuchte er, die sozialistische Lehre der „Einheit von Wirtschafts- und Sozialpolitik“ im deutschen Vasallenstaat des Sowjetimperiums umzusetzen. Das hatte sich jedoch bald als eine weitere Illusion erwiesen.
Christian hatte ihre blauen Augen geerbt, seine Haare aber waren mittelblond. Sie dagegen hatte fast schwarze, zu einer Pagenfrisur geschnittene, Haare und dunkle, schmalgeschwungene Augenbrauen. Ihre sehr schlanke Figur ließ sie mindestens zehn Jahre jünger wirken, fand Wauer. Sie war sportlich, joggte, fuhr Fahrrad und schwamm gern. Entsprechend sicher und geschmeidig waren ihre Bewegungen.
Ganz besonders deutlich hatte Wauer natürlich ihre Erscheinung an ihrem Hochzeitstag vor Augen: Ihr zartgelbes, knielanges Kleid, mit einem dunkelblauen Ledergürtel, und die blauen Rosen, die sie bei der Ansprache der Weißenseer Standesbeamtin fest in ihrem Arm hielt. So bescheiden und sparsam sie ansonsten war, was Stilfragen betraf, war sie sehr eigen und ließ sich das manchmal auch etwas mehr kosten. Sie hatte blaue Rosen verlangt und Wauer hatte ein paar Sekunden gebraucht, bis er es auf den Zünder gekriegt hatte. Er hatte natürlich rote Rosen im Visier. Doch Wauer hatte wie sie einen Sohn, der zu der Zeit vierundzwanzig Jahre alt war. Sibylles Sohn war gerade achtzehn gworden. Wauer war geschieden und Sibylle lebte getrennt vom Vater ihres Sohnes. Angesichts dieser Tatsachen wären ein weißes Kleid und rote Rosen einfach Scheiße gewesen. Und sie wusste so etwas von vornherein, während Wauer bis zu derartigen Erkenntnissen einen Denkprozess benötigte. Und es gab in diesem schönen, neuen, wiedervereinigten Deutschland ja wirklich alles zu kaufen, sogar blaue Rosen!
Eigentlich,