Westdämmerung. Christian Friedrich Schultze
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Auch diesmal waren eine Menge Leute aus der Kirchengemeinde zum Begräbnis erschienen; dazu Lothar, Sibylle natürlich mit ihrem Sohn Christian, die Familie seiner Schwester Beate und Cousin Robert mit Frau Renate und Tochter Silvia. Sogar Wauers Geschiedene, Lothars Mutter Barbara, war nach einer langen Zeit gewollter Kontaktpause zur Abschiedsfeier von der ehemaligen Schwiegermutter gekommen.
Während des Trauergottesdienstes war vor Wauers innerem Auge noch einmal die ganze ekelhafte, traurige und leidensreiche Krankengeschichte der Mutter abgelaufen. Er war froh gewesen, dass sie es endlich hinter sich hatten.
Nach der zweiten Operation im Frühjahr war der Mutter wohl klar geworden, dass mit einer Heilung ihres Krebsleidens nicht zu rechnen war. Sie äußerte den Wunsch, zuhause sterben zu dürfen, in dem Ehebett, in welchem auch ihr strenggläubiger Ehegatte gestorben war. An dieser Idee hielt sie trotz mancher Vorhaltungen der Ärzte und Tochter Beate fest, obwohl sie in ihrer Ehe mit ihm doch so harte, krisenhafte Zeiten durchgemacht hatte. Wauers Schwester hatte, genau wie er, eigentlich gar keine Zeit für die Pflege der Mutter gehabt. Mit Beruf, krankem Mann und zwei schulpflichtigen Kindern war auch sie voll ausgelastet. Und doch hatten sie diese Zeit irgendwie überstanden.
Das spezielle Ansinnen der Schwerkranken erhöhte somit den täglichen Stress Wauers ungemein. Schließlich hatte er mit dem Aufbau seines Planungsbüros und seiner Tätigkeit im Zittauer Kreistag, noch nicht einmal zwei Jahre nach der so genannten Wiedervereinigung, einen ausgefüllten Sechzehnstunden-Tag zu absolvieren.
Ein Jahr nach dem Anschluss, wie manche dazu sagten, der Wahl des CDU-Chefs Helmut Kohl zum gesamtdeutschen Kanzler und der Ermordung Detlev Karsten Rohwedders, hatte man im Zuge einer großen Verwaltungsreform die fünf „neuen Bundesländer“ mit den dazugehörigen Landkreisen gebildet. Im Südosten der Oberlausitz war für das Dreiländereck Deutschland, Polen und Tschechoslowakei ein ordentlicher Kreistag gewählt worden und Martin Wauer war für die SPD dort eingezogen. Die Wahlergebnisse waren für die Ostsächsischen Sozies, noch mehr aber für die Bündnis-90-Leute, die sich mit den Grünen zusammengetan hatten, enttäuschend gewesen, genau wie bei der Bundestagswahl im Jahr zuvor.
Im ehemaligen „Tal der Ahnungslosen“, das so genannt worden war, weil es hier zu DDR-Zeiten bis auf wenige Ausnahmen keinerlei Empfang des Westfernsehens, ja sogar große Schwierigkeiten eines westlichen Radioempfangs gab, war die Ost-SPD mit ihren 13 Prozentpunkten hinter der CDU und der PDS, der Nachfolgerin der SED, weit abgeschlagen worden. Martin Wauer hatte sich verpflichtet gefühlt, mit den sozialdemokratischen Mitstreitern der Wendezeit für einen Platz im Kreistag zu kandidieren und in den Wahlkampf zu ziehen. Immerhin hatte er ja bereits einige Erfahrungen im bundesdeutschen Parlamentarismus gesammelt und eine Reihe möglicherweise nützliche Kontakte in Berlin, Bonn und Hamburg geknüpft. Vor allem der Bekanntheitsgrad seiner Eltern in seinem Heimatort hatte ihm dann jedoch die erforderlichen Wählerstimmen eingebracht.
So hatte er, zusammen mit einigen wenigen Wendeaktivisten der Heimat, zehn Jahre in diesem denk- und merkwürdigen Gremium gesessen, welches bald in „Kreistag des Oberlausitzkreises“ umbenannt worden war. Gemeinsam mit einem Häuflein sozialdemokratischer „Granitschädel“ kämpfte er teils mit, teils gegen die weit überzähligen und cleveren Wendehälse der CDU und der zu ihnen gestoßenen Mitglieder der ehemaligen DDR-Bauernpartei um den Aufbau einer funktionierenden Demokratie; nunmehr in den so genannten „unteren Ebenen“ des Staates. Nicht nur gegen diese, sondern auch gegen die angeblichen Reformer der SED-PDS hegte Wauer tiefes Misstrauen, obwohl er feststellen musste, dass er mit deren Ansichten gar nicht so selten übereinstimmte.
Mit Hilfe seines Freundes Thomas Deutscher, des im Kreisgebiet neu gebildeten Johanniter-Hilfsdienstes und der treuen und hilfsbereiten Frau seines ehemaligen Lehrgesellen, welche gemeinsam mit seiner Mutter jahrzehntelang in der Großschönauer Kirchgemeinde die so genannte „Frauenarbeit“ geleitet und im Kirchenchor gesungen hatte, konnte Wauer einen Hilfsdienst organisieren, der tagsüber, während er für seine neue Firma oder für den Kreistag unterwegs war, die Versorgung der Schwerkranken übernahm.
Jeden Morgen, besonders aber nach Feierabend, meistens nicht vor 19:00 Uhr, sofern nicht noch Sitzungen irgendwelcher Gremien der Partei oder von Arbeitsgruppen des Kreistages stattfanden, hatte er diesen Krankendienst versehen. Früh begann es damit, dass er die Mutter regelmäßig aus ihren schwärzlichen, blutigen und stinkenden Exkrementen herausholen musste. Während er sie und das Bett säuberte, riss er alle Fenster auf, ließ frische Luft herein und anschließend versuchte er, der geschwächten Kranken etwas aufgewärmte Suppe einzuflößen, die am Tag zuvor von einer der helfenden Frauen zubereitet worden war. Danach verabreichte er ihr den verschriebenen Cocktail aus drei Tabletten und einer Kapsel, deren chemische Inhalte ihre Lebensgeister unterstützen und vor allem die furchtbaren Schmerzen lindern sollten; abends waren es sogar fünf, davon eine zur Stärkung der Herz- Kreislauf-Funktionen.
Manchmal erschien ihm die Patientin am Abend ausgeruhter als früh. Wahrscheinlich gelang es den fürsorglichen Helferinnen des Johanniterordens besser als ihm, ihr ein wenig Nahrung und ausreichend Flüssigkeit zuzuführen. Der Freund hatte darauf hingewiesen, dass Wauer vor allem darauf achten müsse, dass die Kranke so viel wie möglich trank. Aber die Mutter war meistens nur sehr mühsam zum Trinken ihres die Heilung angeblich fördernden Kräutertees zu bewegen. Dies änderte sich merkwürdigerweise erst in der letzten Zeit, als deutlich zu merken war, dass der Sensenmann bereits vor der Türe stand. Aber besonders in jenen letzten Tagen ihres Lebens bäumte sich die Frau noch einmal gegen den Tod auf und verlangte nach mehr Nahrung und Flüssigkeit. Doch dadurch erbrach sie sich immer wieder und das Erbrochene war genauso schwarz und stinkend, wie ihre Exkremente, die trotz des Darm-Seitenausganges zusätzlich noch den Weg eines natürlichen Abgangs gefunden hatten.
Ganz besonders stieg ihre Hoffnung auf Gesundung in den letzten Stunden ihres Lebens, obwohl die Gebete, die sie regelmäßig zusammen mit ihrer Betschwester ausführte, die Heilung ganz offensichtlich kein bisschen gefördert hatten.
Hin und wieder hatte es einen Abend gegeben, an dem sich Wauer etwas länger mit ihr unterhalten konnte. Meistens erzählte sie ihm dann aus den Kriegs- und Nachkriegsjahren oder aus den Kindertagen, als seine Schwester Beate schon auf der Welt gewesen war. Es waren zahlreiche Begebenheiten darunter, von denen Wauer entweder gar nichts wusste oder an die er sich nicht mehr erinnern konnte. Über ihr eigenes Leben und Leiden jammerte sie nie. Wauer, der allmorgendlich das unaufhörliche und beängstigende Anschwellen ihres Unterleibes konstatieren musste, konnte nur annähernd ermessen, welche Schmerzen sie zu ertragen hatte. Wenn er sie danach fragte, hatte sie nur geantwortet: „Es geht schon, mein Junge, es gibt Schlimmeres.“
Doch die meiste Zeit ihrer letzten Lebenstage konnte Wauer nicht mit ihr sprechen. Da lag sie regungslos, mit grau eingefallenem Gesicht und wirren weißen Haaren in dem großen Ehebett und schien schon jenseits dieses Erdenlebens zu weilen. In jenen Stunden dachte er ernsthaft darüber nach, ob er die Herz- und Stärkungsmittel absetzen sollte, damit sie endlich sterben konnte. Aber er fand nicht den erforderlichen Mut dazu. Eine offizielle Sterbehilfe hatte es auch zu jener Zeit noch nicht gegeben.
So dauerte ihr Leiden bis zu jenem Sonntagabend im September, an dem sie mit den Worten verschied: „Karl, bist du das?“, als Martin Wauer gerade ins Zimmer getreten war.
3.
An jenem Tag hatten sie es der „Sippe“ zu erklären versucht und den Eindruck gewonnen, dass die Verwandten auch verstanden hatten, dass die beiden „Ältesten“ nach der Begräbnisfeier und dem Kaffeetrinken in der „Sonnebergbaude“ noch einen Spaziergang allein miteinander brauchten. Auch Lothar hatte nach einem kurzen, erstaunten Blick davon abgesehen zu fragen, ob er mitkönne, nachdem er bemerkt hatte, dass die beiden Cousins alleine auf den Berg wollten.
„Wir