Digitale Evolution, Revolution, Devolution?. Brendan Erler
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2.4.2 Exkurs: Wissen, Ideologie, Wissenssoziologie
Das omnipräsente Schlagwort von der Wissens-oder Informationsgesellschaft offenbart die zentrale Bedeutung des Wissens im 21. Jahrhundert und rückt damit Fragen der Konstruktion und Konstitution von Wissen ins Zentrum (auch) wissenschaftlichen Interesses. In diesem Kontext spielt die Ideologie im Beziehungsgeflecht aus Wahrheit, Lüge und Wissenschaft den fehlenden vierten Mann als vermeintlicher Gegenspieler rationaler Erkenntnis. Die Frage nach dem Zusammenhang von Wissen und Wahrheit ist so alt wie die Geschichte der Philosophie, der neuzeitliche Begriff der Ideologie geht jedoch auf die Idolenlehre von Francis Bacon zurück. Bacons Traktat für eine induktive, empirische Wissenschaft jenseits scholastischer Debatten sah in den sogenannten Idolen, „Vorurteile des Geistes“, „jene Hindernisse, die das Erkennen behindern oder entstellen“ (Knoblauch 2005, 28) und somit die Wahrheit zugunsten herrschender Autoritäten verstellen. Im Zuge der Aufklärung wurde dieses Konzept unter Rückgriff auf das Ideal reiner Vernunft in Opposition zur Metaphysik und Religion fortentwickelt, wobei man nun aber im Gegensatz zu Bacons „sozial, psychologisch und anthropologisch bedingten Formen der Selbsttäuschung“ von „mehr oder weniger bewusste[r] Täuschung“ (ebd., 32.) ausging (Priestertrugstheorie vgl. ebd.). Besonders das Versprechen ewigen Lebens im Paradies galt als Besänftigung diesseitigen Leids und dementsprechend als Mittel des Machterhalts (Schützeichel 2007, 14f.). Während also bis dato die Kirche als letzte Glaubensinstanz über die Einhaltung der verbindlichen Dogmen wachte und somit Sinn und Stabilität stiftete, aber auch Herrschaft ausübte, fiel diese Funktion nun der Wissenschaft zu und „mit solcher Einsetzung des ‘Wahrheit‘ über die Welt erkennenden Subjekts als vernunftbegabtes Erkenntnissubjekt geht eine sich neu formierende gesellschaftliche Kontrolle der nun ‘subjekt-begründeten‘ Ideen-, Erkenntnis- und Wahrheitsproduktion“ einher. Die „‘Geburt der Ideologie‘ als einem ‘Kind der Neuzeit‘“ fußt dabei auf „einer grundlegenden Trennlinie zwischen ‘Ideologie‘ und ‘Wissenschaft‘“ (Hirseland 2001, 375f.). Diese frühe Form der Ideologiekritik war auch der Ursprung der modernen Wissenssoziologie.
Der für die hermeneutische Wissenssoziologie in der Tradition Berger Luckmanns charakteristische Sozialkonstruktivismus, der in Verbund mit Foucaults Diskurstheorie die theoretische Grundlegung der Wissenssoziologischen Diskursanalyse bildet, fußt wesentlich auf der Phänomenologie Alfred Schützs. Schütz sucht die Dichotomie von Basis und Überbau zu überwinden, indem er das Wissen integrativ als grundlegend für jegliches Handeln versteht und Handeln als Basis für Konstruktion von Wirklichkeit. Wissen ist nicht getrennt von gesellschaftlicher Praxis, in jedem Handeln äußert sich Wissen als Sedimentation und Typisierung von Erfahrung, wobei der Körper „den Nullpunkt des Erfahrens, […] das Medium der sinnlichen Erfahrung und des Handelns“ (Knoblauch 2005, 146) bildet. Die Konstruktion von Sinn in der sozialen Auseinandersetzung mit Hilfe eines Systems an Typisierungen erfolgt unter Rückgriff auf ein Relevanzsystem, welches vornehmlich unbewusst vielschichtige und mehrdeutige Erfahrungen zu einer sinnvollen Einheit formt, aus der wiederum Alltagsroutinen entstehen.
Das Bewusstsein ist hierbei die zentrale Kraft für die Konstruktion von Wissen und Wirklichkeit, was jedoch nicht bedeutet, dass es sich um einen rein subjektiven, nur auf eigenen Erfahrungen basierenden Akt handelt. Vielmehr stammt der Großteil des Wissensschatzes an Erfahrungen, auf den das Subjekt zurückgreift, von anderen, ist sozial abgeleitet. Der zentrale Ort ist hierbei die Lebenswelt des Alltags, in der sozusagen nicht nur gedacht, sondern auch gemacht wird und jeder somit aktiv an der Konstruktion der Welt partizipiert. Die eigene Handlung ist dabei in ihrer Bedeutung immer auf ein Alter Ego bezogen, wobei das sozial abgeleitete Wissen erst Verständigung ermöglicht, ohne jedoch in sich völlig logisch oder widerspruchsfrei sein zu müssen. Die Sprache stellt in diesem Prozess zwar die wichtigste Ausdrucksform des Wissens dar, wird aber ergänzt durch andere nonverbale Zeichen der Vermittlung von Bedeutung. Die soziale Ableitung des Wissens findet ihren Ausdruck im kollektiven Wissensvorrat, der jedoch mehr ist als die bloße Summe seiner subjektiven Gegenspieler, da er durch die Struktur einer Gesellschaft mitgeprägt, jedoch nicht vollends vorherbestimmt wird (ebd., 142 ff.).
Der mittlerweile zum Klassiker avancierte namensgebende Slogan von der „social construction of reality“ von Berger / Luckmann schließt unmittelbar an Schützs Phänomenologie an, verquickt diese jedoch u.a. mit Elementen der verstehenden Soziologie Webers und der deutschen Wissenssoziologie und sorgt somit nicht nur für eine Renaissance letzterer, sondern etabliert auch die Vorstellung und Theorie des Sozialkonstruktivismus (ebd., 153). Für Berger / Luckmann wäre die menschliche Existenz „würde sie zurückgeworfen auf ihre rein organischen Hilfsmittel, ein Dasein im Chaos“ (1969, 55). Zur Errichtung einer stabilen Ordnung konstruieren Subjekte in alltäglichen Interaktionen die soziale Wirklichkeit, wobei dem „Typus sozialen Handelns von Angesicht zu Angesicht […] als Fundament aller historischen Gesellschaften“ (Schnettler 2006, 174) ein besonderes Gewicht zukommt. Durch regelmäßige Wiederholung dieser Externalisierungen werden die Produkte ihres Handelns objektiviert, sie bekommen eine unabhängige Dimension, eine eigenständige Faktizität in Form von verfestigten Deutungsmustern, Habitualisierungen und Institutionen. Diese Objektivierungen wirken durch Internalisierung wiederum auf das Individuum zurück (ebd., 172.ff.).
Der Mensch ist dabei Ausgangspunkt und letztlich Empfänger intersubjektiv geteilten Sinns, „der Mensch produziert sich selbst“ (Berger / Luckmann 1969, 52). Die darin zum Ausdruck kommende Dualität von Handlung und Struktur formulieren sie wie folgt: „Gesellschaft ist ein menschliches Produkt. Gesellschaft ist objektive Wirklichkeit. Der Mensch ist ein gesellschaftliches Produkt“ (ebd., 65). Daraus entsteht „eine Theorie der sozialen Konstruktion von Deutungs- und Handlungswissen, das gesellschaftlich institutionalisiert und in Sozialisationsprozessen an Individuen vermittelt wird“ (Keller 2008, 41). Eben diese Dualität von Struktur stellt die Brücke zwischen Interaktionismus und Strukturalismus in Form der Wissenssoziologischen Diskursanalyse dar.
2.4.3 Der Mensch produziert sich selbst oder das Ende des Menschen?
Trotz dieser Bücke existieren über den Prozess sozialer Fixierung objektiven Wissens im „konstruktivistischen“ Lager grundlegende Differenzen. Im Zentrum dieser Differenzen steht nicht nur die mittlerweile überkommene Frage von Basis und Überbau, sondern der Mensch als Produkt oder Akteur der ihm bedeutsamen Welt. Die Frage der Verortung des Menschen zwischen Handlung und Struktur ist die zentrale Scheidelinie strukturalistischer oder interaktionistischer Vorstellungen zur Konstruktion von Wirklichkeit.
Berger / Luckmann verlagern in ihrer „sozialen Konstruktion der Wirklichkeit“ (1969) den primären Prozess der Wirklichkeitskonstruktion in die Alltagswelt, denn ohne das „Allerweltswissen“ gäbe es „keine menschliche Gesellschaft“ (ebd., 16). Experten- und Spezialwissen spielt für sie gerade keine Rolle. Ihre Kernfrage lautete: „Wie ist es möglich, dass subjektiv gemeinter Sinn zu objektiver Faktizität wird?“ (ebd., 20). Der fundamentale Widerspruch zwischen dieser phänomenologisch-interpretativen Handlungstheorie und einer (post-)strukturalistischen Diskurstheorie ist der Fokus der Analyse und die Verortung und Definition des Subjekts. Eine von Foucault inspirierte Diskurstheorie setzt nicht bei den handelnden Subjekten an, sondern bei den überindividuellen diskursiven Strukturen, die nicht nur eine beliebige Summe an Aussagen darstellen, sondern eine Regelhaftigkeit aufweisen, die das Subjekt in seinen Handlungs- und Entscheidungsbedingungen (vor-)prägen.
Es handelt sich, wie Jürgen Link treffend formulierte, um eine „typische Henne-Ei-Problematik“ (Link 2005,79). Auch Berger / Luckmann gehen ja von einer externen „Mitbestimmung“ des Subjekts aus, durch, um in ihren Worten zu bleiben, „Internalisierung externalisierter Objektivierungen“. Jedoch scheinen sie, wie der Begriff der Externalisierung schon nahe legt, den Anfang dieses Prozesses in das Subjekt zu verlegen. Dies suggeriert „so etwas wie primäre, prädiskursive ‘personale Kerne‘, aus deren intersubjektiver ‘Externalisierung‘ allererst die Diskurse generiert würden“ (Link 2005,79). Diese „Prädiskursivität“ ist es, die im Widerspruch zur poststrukturalistischen Konzeption