Braunes Eck. Hans-Jürgen Setzer
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Milena hatte vor einigen Wochen mit Tobi Schluss gemacht. Sie waren fast die gesamte Oberstufe über ein Paar gewesen. Es fiel ihr heute ganz und gar nicht leicht hierher zu kommen. Die letzten Wochen grenzten schon fast an Stalking. Ständig war Tobi immer wieder genau dort aufgetaucht, wo Milena unterwegs gewesen war. Er beobachtete sie nur aus der Ferne, sprach nicht mit ihr, verhielt sich wie ein Schatten. Geklärt wurde auf diese Weise natürlich nichts zwischen ihnen, ganz im Gegenteil. Langsam wurde ihr dieses Verhalten unheimlich, wenn er beispielsweise abends zu Fuß, mit dem Rad oder auch seinem Cabrio ganz langsam an Milenas Wohnhaus vorbeikam und einfach nur schaute. Vermutlich wollte er nur nachsehen, ob es einen anderen Mann in ihrem Leben gab, vielleicht auch ob sie zu Hause war und was sie gerade machte. Das Telefon hatte häufiger geklingelt, ohne Anzeige einer Rufnummer und am anderen Ende der Leitung war kein erkennbares Lebenszeichen zu hören, höchstens ein leises Atemgeräusch war hin und wieder zu erahnen.
Sie hatte sich daraufhin ein Herz gefasst und wollte ihn entweder bei einem kleinen Spaziergang oder einem Getränk zur Rede stellen. Sie wusste, dass er vermutlich heute zum Training gehen würde, denn das war ihm in all den gemeinsamen Jahren immer sehr wichtig gewesen. Körper und Aussehen hatten absoluten Vorrang gehabt.
Das Training war offensichtlich früher beendet worden oder eventuell sogar ganz ausgefallen, denn es standen weder Fahrräder noch sonstige Fahrzeuge vor der Halle geparkt. Nur ein einzelnes Fahrrad wartete einsam in seinem Ständer, bis es Gesellschaft bekommen hatte von Milenas bestem Gefährt(en). Milena erkannte das Rad sofort. Es gehörte Tobi.
„Mal sehen, das sieht gar nicht so gut aus. Es ist keine Menschenseele zu sehen. Wenigstens einige Menschen in der Nähe wären mir heute schon lieber gewesen, falls ich auf Tobi treffen sollte. Glück gehabt, die Tür ist jedenfalls nicht verschlossen“, dachte Milena und ging durch den Flur zur Umkleide. Vorsichtig klopfte sie an. Sie hatten schon in vielen Lebenslagen Zeit miteinander verbracht. Dennoch fand sie es unpassend, Tobi womöglich mehr oder weniger unbekleidet anzutreffen. Es brannte noch Licht, doch weder aus den Duschräumen noch aus der Umkleide selbst hörte man irgendein Geräusch. „Hallo?“, versuchte sie es erneut. Der Ruf schallte durch die hohen leeren Räume. Keine Antwort.
Milena ging zur großen Sporthalle, obwohl es ihr unwahrscheinlich vorkam, dass Tobi noch alleine dort sein sollte. Vielleicht wollte er noch ein paar Bälle werfen. Das machte er manchmal, am liebsten ganz alleine, wenn ihn niemand dabei beobachten und kritisieren konnte. Kritik mochte er nämlich generell nicht besonders. Er konnte dann sehr schnell beleidigt sein und noch viel häufiger selbst beleidigend werden.
Die große Hallentür war nur schwer zu öffnen, besonders für so ein Leichtgewicht wie Milena. Sie musste sich daher mit dem ganzen Körper dagegen werfen. „Hallo? Ist hier jemand? Tobi?“, hörte sie sich erneut rufen.
„Oh mein Gott! Nein! Tobi!“ Sie rannte so schnell sie konnte ans andere Ende der großen Halle. Ein durchtrainierter männlicher Körper in kurzer Sportkleidung hing am Metallring des Basketballkorbs und baumelte langsam wie ein Uhrpendel hin und her und wippte dabei leicht rauf und runter. Für dieses Gewicht schien der Basketballkorb nicht gebaut zu sein. Sie schaute nach oben. Sein Gesicht wirkte aufgedunsen, blaurot verfärbt und völlig entstellt. Seine Zunge stand etwas hervor. „Schrecklich, was mache ich denn jetzt nur?“ Ihr war klar, dass sie Tobi nicht mehr helfen konnte. Er war ohne Zweifel schon eine Weile tot. Augenblicklich schoss ein Schwall ihres Mageninhaltes ungebremst aus ihr heraus und klatschte auf den blanken, harten Hallenboden. Sie fiel auf ihre Knie, hielt sich augenblicklich die Hände vor das Gesicht und weinte. Sie weinte und weinte und weinte … die Zeit verrann, ohne dass Milena hätte sagen können, wie lange sie so auf dem Boden verharrt hatte.
Eine ältere männliche Stimme hallte von hinten durch den Halleneingang: „Hallo? Ist hier jemand? Wer verdammt noch mal hat hier wieder überall das Licht brennen lassen und alle Türen stehen sperrangelweit offen? Verdammte Schlamperei. Wenn man nicht alles wirklich selber macht. Da könnte ja jeder…“, fluchte er ohne Unterbrechung, während er die Turnhallentür öffnete. „Oh mein Gott, was ist denn hier los?“, fragte er und rannte auf den toten Körper zu.
Milena zuckte zusammen und konnte vor lauter Tränen und zerlaufenem Makeup kaum etwas sehen.
„Ich hole eine Leiter“, rief er und lief schon wieder zum Eingang, um nur wenig später mit einer größeren Stehleiter zurückzukommen. „Wie zum Teufel, ist der da oben überhaupt rangekommen, ohne Stuhl und Leiter?“, fragte der ältere Herr. Es handelte sich vermutlich um den Hausmeister, jedenfalls seinem grauen Kittel nach zu urteilen. „Mädchen, was war denn hier nur los?“, fügte er an. „Jetzt rede doch endlich!“
„Ich weiß es doch auch nicht. Ich habe ihn gerade eben so hier gefunden“, sagte sie und weinte erneut.
Der Hausmeister erkannte, dass es keinen Sinn machen würde, die Leiche alleine abzuhängen, zumal die Polizei das auch bestimmt nicht gut finden würde. Tot war er allemal, vermutlich sogar schon etwas länger. Soviel war ihm bereits klar. Von der jungen Frau bekam er jetzt sowieso gerade keine sinnvolle Information. „Komm, du musst jetzt erst mal raus an die Luft. Wir rufen jetzt die Polizei.“ Er legte den Arm um Milena und führte sie nach draußen. Dieses zarte Geschöpf konnte auf gar keinen Fall die Täterin sein, von ihr ging also mit Sicherheit derzeit auch keine Gefahr für ihn aus, so mutmaßte er jedenfalls.
Auf geht’s!
Leon Walters saß in der Redaktion des Koblenzer Tageskuriers und machte ein Gesicht, als würde am heutigen Tag noch die Welt untergehen oder als wäre es gerade eben passiert, und er musste völlig hilflos dabei zuschauen. Die Sache mit Sophie ging ihm einfach nicht mehr aus dem Kopf. Es fühlte sich doch über Monate hinweg so gut an – so richtig. Und dann...
„Walters, was machst du denn heute wieder für ein Gesicht?“, fragte die neue Kollegin aus der Sportredaktion, die ihrem nervigen Vorgänger diesbezüglich in nichts nachstand. „Ist heute schon irgendetwas Schlimmes passiert? Kann ich dir irgendwie helfen? Einen starken Kaffee vielleicht? Ein gemeinsames Frühstück und du kannst dich dabei mal so richtig aussprechen? Ich bin eine gute Zuhörerin“, kam Angebot für Angebot wie aus der Pistole geschossen.
Leon zuckte förmlich zusammen und wurde gnadenlos in das wirkliche Leben zurück gerissen.
Es war für Leon nicht zu übersehen gewesen: die neue Kollegin suchte schon seit einigen Tagen engeren Anschluss. Einfach war es für sie bestimmt nicht. Paffrath, der Verlagschef, hatte sie kurzfristig eingestellt und als Berufsneuling einfach ins kalte Wasser geworfen. Ihr Vorgänger, ein alter erfahrener Hase war zudem noch beliebt gewesen bei den Kollegen und im Zusammenhang mit Leons letztem Fall auf tragische Weise ums Leben gekommen. Im Moment schaute jeder, ob die Neue wirklich in die Fußstapfen passen würde. Offensichtlich fühlte sie sich im Tageskurier abgeschottet und brauchte Verbündete – das war überlebenswichtig in diesem Job und besonders beim Koblenzer Tageskurier. Journalismus lebte letztendlich von Kontakten, Erfahrung, einem Quäntchen Glück und natürlich etwas Geschick neben dem handwerklichen Können. Leon war seit einigen Tagen zu sehr mit sich selbst beschäftigt gewesen und hatte sie daher immer wieder abblitzen lassen.
„Du, das ist wirklich lieb von dir. Danke für das tolle Angebot. Vielleicht komme ich später noch darauf zurück. Ich brauche im Moment erst einmal etwas Zeit zum Nachdenken – und zwar ganz für mich alleine. Den starken Kaffee nehme ich trotzdem gerne“, antwortete Leon mit einem