Der Garten der Welt. Ludwig Witzani
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Als der Bus nach einer gut vierstündigen Fahrt in der Stadt Phitsanulok stoppte, war von dieser Vergangenheit nichts mehr zu entdecken. Phitsanulok war eine lebhafte Provinzstadt auf halber Strecke in zwischen Chiang Mia und Bangkok, ein lauter und hektischer Verkehrsknotenpunkt, der allerdings mit einigen Attraktionen aufweisen konnte: dem Kloster des Goldenen Buddha, einem der stimmungsvollsten Nachtmärkte Thailands und eben der Nachbarschaft der Ruinenfelder von Sukothai.
Da es schon dämmerte, beschloss ich, in Phitsanulok zu übernachten, um mir den Goldenen Buddha anzusehen. Der Goldene Buddha von Phitsanulok, eine der berühmtesten Buddha Statuen des Landes, befand sich im Kloster Phra Ratana Mahatat am Ufer des Nan Rivers im Norden der Stadt. Es handelte sich um einen überlebensgroßen, sitzenden Buddha in der Haltung der Erleuchtung (Bhumispasa-mudra) , was bedeutete, dass er im Schneidersitz auf einer Empore saß und dass seine rechten Hand beiläufig gen Boden wies Die Statue, ein Meisterwerk der thailändischen Plastik, entstammte dem 15. Jahrhundert und war über und über mit feinen Goldplättchen bedeckt. Positioniert war der Goldene Buddha in einem nicht sonderlich großen, von Säulen begrenzten Raum mit einem Marmorboden, der so spiegelblank war, als würde er jeden Tag gewienert. Da es im Tempel angenehm kühl war, setzte ich mich in eine Ecke des Raumes und beobachtete die Besucher. Die Atmosphäre war entspannt bis an die Grenze zur Heiterkeit, als würde der Anblick des Goldenen Buddha die Stimmung heben. Zugleich war diese Hochgestimmtheit durch zurückhaltende Devotion gedämpft, wenn sich die Besucher der Skulptur zuwandten und ihre Gaben zu Füßen des Buddha niederlegten. Gebetet oder meditiert wurde kaum, eher glichen die Besuche Stippvisiten bei einem freundlichen Hausgeist, den man in bestimmten Abständen einfach besuchen muss. Der Gegensatz zwischen der anspruchsvollen und durchgeistigten Lehre des Buddha und der freundlichen Beiläufigkeit seiner Verehrung verwunderte mich.
Warum der Buddhismus in seinen verschiedenen Varianten zur großen Weltreligion Asiens wurde, ist allerdings durch seine Lehre allein ohnehin nicht zu verstehen. In Wahrheit verdankt der Buddhismus seine Verbreitung seiner enormen spirituellen Elastizität, die ihm die Überwölbung und Assimilierung der unterschiedlichsten Traditionen gestattete. Unterhalb der buddhistischen Lehre von der Nichtigkeit der materiellen Welt gleicht der Buddhismus einer Leinwand, auf der die Völker über die Jahrhunderte hinweg ihre religiösen Träume ausmalten und mühelos den ganzen Kanon ihrer eigenen Götter, Geister und Ahnen miteinbeziehen können. Von Indien aus gelangte der Buddhismus zuerst nach Sri Lanka, dann über Bengalen nach Indochina. Über den Himalaya und die Seidenstraße erreichte er Tibet und Zentralasien, schließlich China, Korea und Japan, um überall lokale Traditionen so intensiv in sich aufzunehmen, dass er eigentlich von Land zu Land ein anderer ist. Als die Thais Indochina erreichten, war der Buddhismus also bereits da, die Gottkönige von Angkor hatten den neuen Glauben angenommen und verbreiteten ihn in ihrem Reich.
Während meiner Anwesenheit zu Füßen des Goldenen Buddha zählte ich Dutzende Familien, die sich vor dem Goldenen Buddha versammelten, unbekümmert herumscherzten und sich dann umdrehten um sich, den Buddha gütig lächelnd im Hintergrund, gemeinsam ablichten zu lassen. Keine dieser Familien war ohne mindestens drei Kinder vor dem großen Buddha erschienen, meistens waren es mehr, und bei vielen war auch noch eine Großmutter mit von der Partie. Dem Augenschein nach waren die Besucher weder arm noch reich sondern völlig normale Thais, die in diesem Tempel das kostbarste präsentierten, was ihnen das Leben schenken konnte: ihre Kinder. An dieser Kostbarkeit herrscht in Thailand kein Mangel, im Gegenteil der Kinderreichtum des Landes hat sich zu einem seiner größten Probleme ausgewachsen. Aus den fünf Millionen Menschen, die in der Mitte des 19. Jahrhunderts in Thailand lebten, waren zum Beginn des 20. Jahrhunderts bereits zehn Millionen geworden. Im Jahre 1960 wurde die 25 Millionen-Marke überschritten, und nur 25 Jahre später hatte sich die Bevölkerung Thailands auf über 50 Millionen Menschen mehr als verdoppelt. Mittlerweile dürfte die Bevölkerung Thailands die Siebzig Millionen-Grenze erreicht haben.
Am nächsten Morgen fuhr ich mit dem Bus von Phitsanulok nach New Sukothai und nahm von dort ein Tuk-Tuk, das mich zum Ruinenfeld von Old Sukothai brachte. Obwohl sich die Ruinen der alten Königsstadt über einen ausgedehnten Bezirk erstreckten, konnte man die beeindruckendsten Ruinen innerhalb eines fußläufig zugänglichen archäologischen Parks besichtigen. Dieser Sukothai-Park bestand aus gepflegten Rasenflächen mit künstlichen Seen und Inseln, die über kleine, chinesisch anmutende Brücken miteinander verbunden waren. Merkwürdigerweise war ich ganz alleine auf dem Ruinenfeld, und es herrschte eine Ruhe, wie ich sie bisher in Thailand noch nicht erlebt hatte. Die Umrisse der Landschaft verschwammen im Dunst der mittäglichen Hitze, nur Vogelgezwitscher war zu hören, als ich mich in den Schatten setze, um ein wenig über Sokothai zu lesen.
Da die Einwanderung der Thai-Bevölkerung im 13. Jahrhundert immer mehr zunahm, wurde das Verhältnis zum Reich der Khmer zum Problem. Es kam zu Reibereien, ehe sich die örtlichen Thai-Stämme von Sukothai gegen die Khmer erhoben, die Besatzungstruppen davonjagten, um die Unabhängigkeit ihrer Stämme auszurufen. Nach der Genealogie der thailändischen Könige soll das im Jahre 1238 unter der Führung eines gewissen Sri Indradityas geschehen sein, dem die Legende als thailändischer Nationalheld zahlreiche mythische Züge andichtete.
Wirklich in das Scheinwerferlicht der Geschichte traten die Thais aber erst mit Indradityas jüngerem Sohn Ramkhamhaeng, dem dritten König von Sukothai (1279-1299), den die Thais bis auf den heutigen Tag als Begründer ihrer Nation verehren. Ramkhamhaeng befestigte Sukothai und begann mit dem Bau großer Tempel- und Bewässerungsanlagen. In seiner Regierungszeit entstand die Thai-Schrift, die wie alle Schriften Südostasiens eine Mischung aus alphabetischer und Silbenschrift darstellt. Ramkhamhaeng erhob den ohnehin schon vorherrschenden Buddhismus zur Staatsreligion und förderte die Missionstätigkeit srialankesischer Mönche, die alle Winkel des Landes durchwanderten, um auch den letzten heidnischen Thai zu missionieren. Am Ende seines Lebens soll König Ramkhamhaeng höchst selbst eine Tributgesandtschaft nach China geführt haben, wo er vom Nachfolger Kubilai Khans empfangen und bestätigt wurde. Da fast gleichzeitig die Mongolen die benachbarte burmesische Metropole Pagan zerstörten und sich das Reich der Khmer im Niedergang befand, gelang es Ramkhamhaeng fast das gesamte heutige Thailand unter seiner Herrschaft zu einigen.
Wenn die Herrlichkeit Sukothais auch kaum einhundert Jahre währte, wurde sie für die thailändische Kultur und Geschichte stilbildend. Aus dem Prang, dem Tempelturm der Khmer entwickelte sich der konisch zulaufende thailändische Tempelturm und schließlich die glockenförmige Chedi. Während im benachbarten Indien der Buddhismus unter den Schlägen islamischer Eroberer vernichtet wurde, erblühte er im Reich der Thai zu neuer Herrlichkeit. Nirgendwo in Asien gelangte die Figur des schreitenden Buddhas zu solch zauberhafter und filigraner Darstellung wie im Königspalast von Sukothai. Mehr schwebend als gehend scheint sich der schreitende Buddha über den Boden zu bewegen, vorbei an einer ganzen Galerie halbverfallener Säulen und einem überlebensgroßen Buddha an der Stirnseite des Tempels entgegen. Eine ganze Stunde saß ich im Schatten der Ruinen des Königspalastes und imaginierte die Bilder eines mittelalterlichen Reiches, seine turbulenten Alltagsszenen, die Ankunft der Heere, die die Khmer immer weiter nach Osten drängten, die Meditationen der srilankesischen Mönche und die Audienzen des Königs. Um mich herum blühte die Natur, Überreste zerfallener Skulpturen lagen im Unterholz, und ein Buddha Kopf mit der spitzen zulaufenden Krone der Erleuchtung auf dem Schädel ragte über den Rand der Bäume.
Auch während meiner weiteren Erkundung des Ruinenfeldes von Sukothai begegnete ich überall Buddha- Skulpturen. Sie standen, schritten, saßen oder schliefen, geradeso als wolle der Erleuchtete jede nur mögliche Körperhaltung probeweise mit der Mediation in Verbindung bringen. Unvergesslich blieb mir der fast fünfzehn Meter hohe Riesenbuddha im Wat Su Chum, einer kolossalen Gestalt, die noch übermächtiger wirkte, weil sie in von einem engen Gemäuer umgeben war. Diese Einschnürung des monumentalen Buddha erschien mir wie ästhetischer Ausdruck dafür, dass die Lehre des Buddha die Grenzen des Menschlichen sprengt.