Ostpreußen für Anfänger. Brigitte Jäger-Dabek

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Ostpreußen für Anfänger - Brigitte Jäger-Dabek

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keine Eingeborenen, auch keine dort Geborenen. Wir sind hineingeboren in ein Dasein zwischen Baum und Borke. Ist sie wirklich eine Gnade, diese späte Geburt? Die Gnade nicht nur die deutsche Schuld, sondern auch das Trauma nicht selbst erlebt zu haben?

      Wir sind nach etwas geboren, nach dem großen Schnitt, nach dem großen Trauma, nach dem großen Verdrängen. Nachgeboren – nach einem harten Schnitt begann mit uns ein neuer Film, als ob es nie ein vorher gegeben hätte.

      Hätten sie es Heimat genannt, wäre für mich als Kind vieles leichter gewesen. Aber dieses Wort benutzten sie nie, sie sagten immer zu Hause, wenn sie Ostpreußen meinten.

      Die Ungereimtheiten in der Begriffswelt meiner Angehörigen be­schäftigten mich. Wieso sagten die bloß immer zu Hause, wenn sie Ostpreußen meinten? Waren wir denn nicht in Stade zu Hause? Wir hatten doch hier unser Haus, wieso hatten sie das dann über­haupt gebaut? Oder konnte ein Mensch mehrere „Zu­hause“ haben?

      Das verunsicherte mich. Ich kannte dieses andere Zuhause ja nicht, konnte vor allem damals als kleines Kind nicht ermessen, was sie verloren hatten. Wahrscheinlich würde ich dieses alte Zu­hause auch nie kennenlernen. Ich fühlte mich dann ungerecht behandelt, vor al­lem aber ausgeschlossen von einem zentralen Bereich des Lebens meiner Familie. Als Einzige war ich hier geboren und betrachtete das als einen Makel. War ich nicht gut genug gewesen, in diesem Paradies geboren zu sein? War ich ein solch böses Kind, dass ich nicht im Familienparadies aufwachsen durfte?

      Besonders in meinen frühen Kinderjahren mit dem noch gerin­gen zeitlichen Abstand war der Krieg mit dieser für sie finalen Kata­strophe das bestimmende Ereignis im Leben der ganzen Fami­lie.

      Dieses traumatische Kernerlebnis war in den mich prägenden Jahren immer präsent. Mit zunehmendem zeitlichem Abstand än­derten sich die Gewichtungen dann etwas, viele neue Eindrücke kamen dazu. Das Aufbauen, der Neuanfang brauchte eigentlich die ganze Kraft, an der diese rückwärtsgewandte Trauer aber immer noch zehrte. Natürlich wurde auch gefeiert, gab es überaus frohe Stunden, vor allem bei Familienfesten. Da wurde gelacht bis die Tränen kamen, aber im­mer war da dieses 'weißt du noch?', jede Menge Anekdoten, Ge­schichten aus einem fernen Land. Aber über allem lag immer ein Hauch von Melancholie, war die Wehmut über die Endgültigkeit dieses 'es war einmal' allgegenwärtig. Natürlich konnte ich das damals noch nicht ausdrücken, aber ich spürte es.

      Endgültig war dieser Verlust und total, da war nicht nur die geo­grafische Heimat verloren, eine ganze Lebenswelt war unterge­gangen. So wuchs ich auf in dem Bewusstsein, dass meine Familie anders war, als die der hiesigen Schul­ka­meraden, da musste keiner erst Flüchtlingspack oder Ruck­sack­deutscher schreien, was während meiner Kindheit sehr wohl noch vorkam.

      Als ich 1976 zum ersten Mal nach Ostpreußen reiste, war ich vierundzwanzig Jahre alt und ziemlich weit entfernt von den Ge­danken und Empfindungen der Kindheit. Andere Dinge waren wichtiger geworden und hatten Ostpreußen verdrängt.

      Die Distanz zwischen den vielen Geschichten meiner Kinderzeit und meinem Leben als junger Erwachsener konnte größer nicht sein als gerade zu dieser Zeit.

      Mittlerweile ging ich diesen Komplex mit ironischer bis sarkastischer Distanziertheit an, Ostpreußen nannte ich jetzt oft Kalte Heimat.

      Als mein Vater mir von seinen Reiseplänen erzählte, war ich trotzdem gleich Feuer und Flamme. Da war eine gewisse Abenteuerlust: Go east, eines der letzten Abenteuer in Europa.

      Bilder hatten sie in mir mit all ihren Erzählungen entstehen las­sen, jetzt wollte ich natürlich überprüfen, ob sie der Wirklichkeit standhielten. Skeptisch war ich diesbezüglich schon und durch­aus gewärtig, dass manches schöngeredet, ja glorifiziert worden war.

      Nüchtern wollte ich mir die­ses Gelobte Land ansehen, möglichst objektiv beobach­ten und Distanz waren, wenn nicht anders, dann meine bewährte ironi­sche Distanziertheit vorschieben, bevor ich mich in senti­mentalen Gefühlen verlor.

      Die liebliche, rundliche Landschaft fing schnell an, mir zu gefallen, abwechslungsreich war sie, mit saftig dun­kelgrünen Wiesen, hellen Roggen- und gelbblonden Weizen­fel­dern, ausgedehnten Wäldern und den ersten Seen. es war Hoch­sommer, kurz vor der Getreideernte, die zweite Heumahd war im Gange. Landwirtschaft der Gegensätze, hier agrar-indu­strielle Be­arbeitung von Staatsgütern, daneben Kleinbauern mit Pferd und Wagen, fast archaisch anmutend.

      Expedition Kalte Heimat hatte ich das Unternehmen Ostpreußenreise ironisch-di­stanziert genannt, aber das war's dann auch schon. Der erste kleine Spaziergang vom Parkplatz aus genügte und ich war hin und weg. Ich konnte mich kaum satt sehen an den klaren Farben, an der weit bis nach Osterode am Horizont offen daliegenden Landschaft, hüge­lig, rundlich, beschaulich. Eine Sommerlandschaft, fast unwirk­lich friedlich und still, einladend zum Innehalten und Träumen, ohne Ecken und Kanten, an­heimelnd gemütlich wie die ostpreußische Sprache.

      Als ich zum Auto zurückkam, wusste ich, diese Bilder würde ich nie wieder verges­sen. Die Distanz war mir völ­lig abhandengekommen. Ich hatte mich regelrecht verguckt in dieses Land, fing an es zu lieben. Das Land und ich, wir hatten uns gefunden.

      Unser Ziel war Allenstein, die Heimatstadt meines Vaters. Alle Plätze in der Stadt, die für die Familie einmal eine Bedeutung hatten, waren mir ja durch unzählige Er­zäh­lungen längst vertraut und so waren Allenstein, das Ermland und Masuren nicht wirklich fremd für mich, schnell hatte ich mich zurechtgefunden.

      War es nun das, was ich dort zu finden hoffte? Eine Momentauf­nahme aus der Familiengeschichte, nur eine sentimentale Remi­niszenz an die Erzählungen aus der Kindheit? Oder wollte ich doch nur bestätigt finden, dass alles nur ein Traum in der Erinne­rung der Eltern war, dass es dieses Land so nur in ihrer Erinnerung gab? Was hatte ich eigentlich erwar­tet? Eine Art Freilichtmuseum, in dem alles mit dem Kriegsende wie eingefroren war? Aber dieses Land lebte noch - Gott sei Dank!

      In Allenstein hatte ich schon bei dieser ersten Reise etwas erfah­ren, wonach ich mich bereits als Kind gesehnt hatte. Das hier war meine Geschichte, hier ging mein Vater mit mir durch die Stadt und zeigte, wo die Urgroßeltern gewohnt hatten, wo er zur Schule gegangen war …Endlich hatten Bauten und Plätze eine Beziehung zu meinem Leben, zu meiner Familiengeschichte.

      Die Hälfte meiner Wurzeln hatte ich gefunden. Nicht einmal Orientierungsprobleme bekam ich, anscheinend hatte ich den Stadt­plan schon in der Kindheit verinnerlicht. Viele Jahre später ging mir das mit In­sterburg, der Heimatstadt meiner Mutter genauso.

      Vor dieser ersten Reise war Ostpreußen mehr eine Kindheitser­in­nerung, durch die Familie irgendwie immer präsent, aber dar­über hinaus für mich persönlich ohne größere Bedeutung. Ja ei­gentlich hatte ich ein ambivalentes Verhältnis zu Ostpreußen. Einerseits hatte es meine Kindheit dominiert, andererseits ging mir dieses Leben in der Vergangenheit „auf den Geist“. Vor allem wollte ich um keinen Preis etwas mit Revanchismus zu tun ha­ben, wollte politisch der rechten Ecke so fern wie nur irgend möglich bleiben. Andererseits wusste ich, dass sie als Ostpreußen kollektiv den Preis zahlten und andere, die als Bevölkerung ei­ner westlicheren Re­gion nicht mehr und nicht weniger schuldig waren, kamen kollek­tiv ungeschoren davon. Ich war gespannt auf dieses Land, suchte aber bewusst Distanz, besonders zu den Gefühlen meiner Eltern und Großeltern.

      

       Und nach dieser Reise?

      Ich fragte mich, wie sie diesen Verlust überhaupt verkraften konnten. Man hatte ihnen diese Heimat amputiert, der Stumpf war schlecht und recht verheilt und nun hatten sie lebenslang Phantomschmerzen. Sie mussten lernen, deutsche Schuld daran anzunehmen, sie haben diesen Preis zahlen müssen, auch wenn

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