Was einem so auffällt. Hanns van Kann
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Biotin-Malemide
Ein Zettel liegt in unserem Briefkasten. Eine kurze Mitteilung, daß uns am Dienstag, um 14.20 Uhr ein Bote der DHL Worldwide Express ein Paket überbringen wollte. Er fordert uns auf, die Nr. 902122424 anzurufen, um einen neuen Übergabetermin zu vereinbaren.
Ein Paket? Für uns? Ein Paket? Tatsächlich: Ein Paket!
Geben Sie es zu. Sie hätten auch nicht lange gezögert und hätten schnellstens die angegebene Nummer angerufen. Schon aus purer Neugierde. Ein Paket! Für uns!
Die Nummer ist besetzt. Auch beim zweiten Mal: Die Nummer ist besetzt.
Wer nur schickt uns ein Paket? Sicher, möglich wäre das schon .... Da haben wir doch kürzlich – erinnerst du dich? So kurz vor Weihnachten passieren ja die überraschendsten Dinge. Warum sollte uns nicht einer ein Paket schicken? Vielleicht..? Oder vielleicht..? Namen, die sonst längst vergessen, gehen durch den Kopf.
Fragen tauchen auf. Ein großes Paket? Ein kleines nur (was ein bißchen schäbig wäre)? Was mag wohl drin sein? Steht da auf dem Zettel denn nicht irgendetwas? Da muß doch draufstehen, woher es kommt. Sieh doch noch einmal nach, auf dem Zettel. „Die verstehen es, eine vorweihnachtliche Spannung zu provozieren, diese worldwides!“
Die Nummer ist besetzt. Zum dritten Mal.
Da stimmt doch etwas nicht, das kann doch nicht sein. Versuch es noch einmal.
Endlich. Eine automatische Stimme fordert dazu auf, die Taste 1 für Termine oder 2 für Versand oder 3 für Reklamationen zu drücken, na, Sie kennen so etwas ja sicher. Versuchen wir es also mal mit der eins. Richtig, eine freundliche Dame fragt auf spanisch (natürlich, wie sollte sie sonst wohl in Spanien sprechen), also sie fragt nach dem Namen - bitte buchstabieren, nach der Nummer, die auf dem Zettel steht, will wissen, wo wir wohnen auf Mallorca, ob unser Ort in der Mitte der Insel liegt, im Osten etwa, oder gar im Westen - oha, denke ich, die ist nicht von hier, sie kennt sich auf der schönsten Insel im Mittelmeer nicht so richtig aus. Nein, sagt sie dann auch, sie telefoniere aus Madrid mit mir, und deshalb bäte sie noch um unsere Postleitzahl, und wie das Wetter denn so wäre auf der schönen Insel. Im Sommer sei sie mal hier gewesen. Nach Austausch all dieser Formalitäten und Informationen in perfektem spanisch rät sie uns, am Mittwoch im Hause zu sein, um das Paket in Empfang zu nehmen. Wir würden uns doch sicher freuen, nimmt sie Anteil – oh ja, sehr sogar, bald ist doch Weihnacht, sage ich.
Nur: Wer denkt da so lieb an uns? Wer nur ist es, der uns mit einem Paket beglücken will? Wer nur macht sich solche Arbeit? So geht es uns durch den Kopf: Auswählen, womit man uns wohl im fernen Land, weit übers Meer, eine Freude machen könnte, alles zusammentragen, Packmaterial suchen, einpacken, worldwide anrufen und, und, und...... all das stellen wir uns vor.
Mittwoch, ein herrlicher Tag, Sonne, Wärme, geeignet, eine Wanderung zu machen. Auf den Berg Alaro, auf den Deich bei Molinar? Alles nicht, wir bleiben im Haus, trauen uns nicht auf die Straße. Wer nur schickt uns...? Wer denkt so aufmerksam an uns hier auf der Insel?
Wir erfahren es am Mittwoch nicht. Auch am Donnerstag erfahren wir nicht, was da wohl drin ist, in dem Paket, und von wem es ist, denn am Donnerstag, ein 6. Dezember, feiert jeder aufrechte Spanier nicht Nikolaus, sondern den Tag der Konstitution. Die Geschäfte sind geschlossen, die Behörden arbeiten nicht (was an sich noch nicht viel zu sagen hat), die Arbeiter und Angestellten widmen sich ihren häuslichen Arbeiten (auf Mallorca z.B. können sie es nicht lassen, auch an solch einem hohen Feiertag handwerkliche, mit Bohren und Hämmern verbundene Arbeiten auszuführen). Auch Worldwide Express arbeitet nicht, selbstverständlich.
Am Freitag wähle ich erneut die angegebene Nummer, drücke weisungsgemäß die Taste 1, nenne meinen Namen, buchstabiere ihn, übermittle die Paketnummer, antworte brav auf die Frage, wo auf Mallorca der Ort Illetas zu finden sei, schildere also Lage und Befinden und erfahre, daß am Freitag der Bote das Paket bringe, so gegen 18 Uhr.
Die Spannung steigt, die Vorfreude wird größer. Woher es nur kommen mag, das Paket? Und von wem? Ab 12 Uhr verordnen wir uns strengen Hausarrest. Um 16 Uhr klingelt es. Worldwide ist da, das Paket ist da! rufen wir wie aus einem Munde.
Der Bote übergibt uns gegen Quittung einen 50 x 50 cm großen, braunen Pappkarton, dessen Inhalt sich unschwer als ein Wandkalender ausmachen läßt – womit unsere Spannung sichtbar nachläßt und einer gewissen Enttäuschung Platz macht. Nicht, daß jetzt jemand denkt, wir seien undankbar, oder etwa fragt: “Ja, was habt ihr denn erwartet?“ Nein, um Gottes Willen - nur, wir wissen nicht wohin mit einem solchen Geschenk. Wüßten Sie es? Ehrlich?
Nun, die Bank aus dem fernen Frankfurt nimmt auf Platzfragen keine Rücksicht, erinnert sich unser aber in Spanien und wünscht frohe Weihnachten mit 12 Kalenderblättern in Glanzdruck, jedes 45x 45cm groß, mit Werken von Künstlern unserer Zeit. Wie es heißt, befinden sich die vom Vorstandsvorsitzenden persönlich, ich betone das, ausgesuchten Originale im Besitz der Bank. Er will uns, und sicher noch vielen anderen Bankkunden, mit diesem Kunstkalender eine Freude machen und erzieherisch wirken. Eine edle Aufgabe.
Ein Blatt zeigt eine Arbeit von Damien Hirst. Daß ich ihn nicht kenne, besagt nichts. Ich weiß nicht, ob Sie schon von ihm gehört haben. Es ist der, der da sagte, die Welt werde auf eine gewisse Weise durch die Kunst verändert. Durch sie würden die Menschen dazu gebracht, über ihr Leben nachzudenken. So finden der Tod und seine ständige Präsenz Eingang in seine Werke. Damien hat sein Gemälde „Biotin-Malemide“ genannt nach einem pharmazeutischen Präparat, von dem Sie vielleicht eher schon einmal gehört haben. Wir kennen es nicht, da wir ohnehin bisher weitgehend ohne Pillen auskommen. 391 dieser Pillen in allen Farben sind regelmäßig auf eine 4,32 x 3,17 m große Leinwand gemalt. Hübsch sieht das aus. Wenn wir für den Kalender einen Platz finden, hätten wir erst im September die Gelegenheit, 30 Tage lang angesichts der Pillen über Alter, Sterben und Vergänglichkeit nachzudenken.
Wir sind nicht undankbar. Ganz und gar nicht. Ich sagte es schon. Immerhin ist dem Vorstandsvorsitzenden und seiner Bank eine Weihnachtsüberraschung gelungen, was heutzutage doch wirklich eine Seltenheit ist und über die man sich freuen sollte…
Der Bäckerladen
Der Leser wird mit mir darin übereinstimmen, daß ein Büstenhalter ein Kleidungsstück ist, dessen man sich nicht zu schämen braucht. Man sieht sie zu Hunderten in Kaufhäusern an Ständern hängen oder schön verpackt stapelweise in Regalen liegen – offen, gut sichtbar und nicht etwa unter der Theke. Man sieht sie in Schaufenstern von kleinen Weißwarenläden auf dem Lande oder in eleganten Auslagen von Dessousboutiquen in der Großstadt, ja, man sieht sie sogar auf dörflichen Marktständen an Stangen im Winde baumeln, in allen Größen, Weiten und Farben. Wäre Ihnen je beim Anschauen ein erotisches Gefühl aufgekommen oder ein anderes, dessen Sie sich gar schämen müßten? Und auch das Verführerische, oder gar Verruchte, das einem schmeichelnd in Farbkatalogen von Versandhäusern, auf Plakaten und im Werbefernsehen vorgeführt wird – vermag Sie das