Nesthäkchen im Kinderheim. Else Ury
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Читать онлайн книгу Nesthäkchen im Kinderheim - Else Ury страница 4
»Fräulein Neudorf hätte mir beinah einen Tadel gegeben – aber nur beinah', Muttichen,« bekräftigte Annemarie schnell noch einmal, da sie sah, daß Mutters stets so freundliches Gesicht sehr ernst wurde.
»Was soll denn das heißen, Annemarie?«
»Na ja, erst wollte sie, weil sie glaubte, ich hätte Margot gefragt, was bei der einen Aufgabe rauskommt. Und nachher hat sie sich zum Glück noch besonnen, und ganz nachher war sie überhaupt nicht mehr böse,« sprudelte Annemarie ziemlich unklar heraus.
»Geh' in dein Zimmer und ziehe dich aus, Annemarie. Du hast mir heute wenig Freude gemacht.« Mutti schaute traurig aus.
Das Töchterchen sah unbehaglich zu ihr hin.
»Wenn Fräulein Neudorf nicht mehr böse war, brauchst du es doch auch nicht zu sein, Mutti – und – und – das nächste mal passe ich gewiß wieder besser auf!« Die Matrosenmütze rutschte noch schiefer, denn die Kleine hatte den Blondkopf in jäher Aufwallung an Muttis Wange gepreßt.
Konnte Frau Doktor Braun da ihrem Nesthäkchen noch zürnen? Sie machte sich aus der sie zerquetschenden Umarmung los, gab der kleinen Sünderin einen liebevollen Klaps und sagte: »Na lauf, Lotte, und bessere dich!«
Hurra – Mutti hatte wieder »Lotte« gesagt! Mit einem Freudengeheul, dem sich sofort ein Jammergeheul des zu Muttis Füßen liegenden Puck anschloß, den sie in glückseliger Unachtsamkeit aufs Pfötchen getreten, verschwand Annemarie im Kinderzimmer.
Die Mütze flog aufs Bett, der Mantel auf den Tisch, die Mappe in den Puppenwagen und die Handschuhe auf die Erde.
»Tag, geliebtes Fräulein,« mitten hinein in den großen Berg Ausbesserwäsche, in dem Fräulein wie zwischen weißen Wolken thronte, wirbelte Annemarie.
»Aber Annemarie, du kleiner Liederjahn – jeden Tag muß ich dich erst daran erinnern, daß man seine Sachen ordentlich forträumt –«
»Geliebtes, goldenes Fräulein, bloß keine Strafpredigt mehr, ich habe mein reichliches Teil heute schon weg.« Ehe Fräulein noch des näheren auf den heiklen Punkt eingehen konnte, war das quecksilbrige Ding schon wieder davon. Draußen in der Küche biß es mit Riesenappetit in das leckere Brot, das Hanne inzwischen für »ihr Kind« bereitet. Denn Annemarie war, obgleich sie nun schon zehn Jahre alt wurde, als Nesthäkchen noch immer der Verzug vom ganzen Haus.
Nanu – und der, welcher sein Herzblatt am meisten vergötterte, der Vater, wollte heute gar nichts von ihr wissen?
»Drei Schritte vom Leibe, Lotte – potztausend, ich sage dir doch, du sollst nicht an mich herankommen!« so rief er ihr aufgebracht zu.
Annemarie, die dem aus der Praxis heimkehrenden Vater wie immer an den Hals geflogen war, machte ein höchst bestürztes Gesicht. Warum war denn Vater so ärgerlich auf sie? Hatte sie seinen Anzug mit ihren Butterbrothänden fettig gemacht? Das Töchterchen schob beleidigt die Unterlippe vor, das tat sie noch immer, trotzdem sie schon ein großes Mädchen war. Vater aber ging in sein Zimmer und kleidete sich um.
Bei Tisch war das Plappermäulchen so einsilbig, daß es den Brüdern auffiel.
»Was ausgefressen, Annemie?« fragte Hans, der ältere, mitleidig.
»Ih wo!« Annemarie sah unsicher zum Vater hin. Sie wußte wirklich nicht, was sie verbrochen.
»Du hast gewiß 'nen Tadel bekommen,« rief Klaus, denn darin hatte er reiche Erfahrung.
»Ih wo!« machte die jüngere Schwester wieder, aber das klang nicht ganz so bestimmt wie vorher. Diesmal ging ihr Blick unsicher zur Mutter hin.
Nach der Mahlzeit packte Vater sein beleidigtes Nesthäkchen bei den winzigen Rattenschwänzchen.
»Du mußt dir das nicht so zu Herzen nehmen, meine Lotte, daß ich dich vorhin angefahren habe. Ich kam von Scharlachkindern, da hatte ich Angst, daß du dich anstecken könntest, wenn du so dicht an mich herankommst.«
Seine Lotte lachte bereits wieder über das ganze Gesicht. Wenn Vater nicht ärgerlich auf sie war, ach, dann war ja alles gut! Dann ließ sie sich sogar gern ein bißchen von ihm anfahren.
»Und weißt du, Vatchen,« beruhigte sie ihn zärtlich, »du brauchst gar keine Angst zu haben. Ich bekomme bestimmt nicht Scharlach, denn ich habe ja erst die Masern gehabt.«
2. Kapitel
In Vaters Klinik
Eine Woche war es nur noch bis zu den Osterzensuren. Man sprach jetzt in der Schule eigentlich von nichts anderem mehr. Höchstens in der achten Klasse. Da war der bevorstehende Geburtstag von Annemarie Braun, und wen sie wohl zu ihrer Kindergesellschaft einladen würde, beinahe ebenso wichtig wie die Versetzung. Denn Annemarie war allgemein beliebt in der Klasse, und außerdem erschien es einer jeden als höchstes Ziel, bei der Ersten eingeladen zu werden. Wenn Annemarie auch meistens nur auf dem ersten Platz Gastrollen gab. Durch ihre guten Fähigkeiten überflügelte sie ihre Mitschülerinnen, doch ihr übermütiges und unachtsames Wesen ließ sie den Ehrenplatz nie lange behaupten.
Aber die Kindergesellschaft durfte nur stattfinden, wenn Annemarie »lobenswert« im Betragen bekam. Mutti hatte es ausdrücklich ihrem Nesthäkchen eröffnet. Annemarie hoffte, daß Fräulein Neudorf den Radau neulich vor der Rechenstunde vergessen haben würde – und mit ihr hofften es all ihre Freundinnen.
Überhaupt irgendwelche Sorgen pflegte sich der lustige Wildfang nie lange zu machen. Wie kam es dann nur, daß Annemarie jetzt gar nicht so ausgelassen sein konnte wie sonst? Daß sie unlustig zur Arbeit wie zum Spielen war, daß sie sich sogar mit dem Lieblingsbruder Hans nicht vertrug und losheulte, wenn man sie bloß schief ansah? Grade ihr liebenswürdiges Wesen gewann ihr doch sonst alle Herzen. Auch mit Freundin Margot hätte es sicherlich Streit gegeben, wenn diese nicht solch ein sanftes Kind gewesen wäre.
Nicht einmal die Handarbeitsstunde, in der Puppenkleider genäht wurden, und auf die sie sich so gefreut hatte, machte ihr Spaß. Auf ihrem ersten Platz saß Annemarie und hatte vor sich den wunderschönen hellblauen Puppenlappen, den sie Mutti abgebettelt, ausgebreitet. Ihre Negerpuppe Lolo, die sie nach der Schule begleitet hatte, grinste vor Freude über das neue Sonntagskleidchen, das sie bekommen sollte.
Es war ein drolliges Bild, wie die kleinen Schulmädel voll Eifer ihren Puppenkindern nach Fräulein Herings Angaben Maß nahmen. Jeder Schülerin sah man die Freude an der hübschen Beschäftigung an.
Nur Annmaries Gesicht schaute unlustig drein. Anstatt die Schulterbreite von Lolo zu messen, stützte sie ihren Blondkopf in die Hand. Wie der brannte und schmerzte! Und die Augenlider waren ihr so schwer, daß sie dieselben am liebsten geschlossen hätte.
Aber nein, sie wollte doch ihre Lieblingslehrerin nicht ärgern. Mit Anstrengung riß die Kleine die drückenden Blauaugen wieder auf.
Nanu, was fiel denn Puppe Lolo ein? Die steckte ihr ja ganz weit die rote Zunge, die sonst hinter den weißen Porzellanzähnchen kaum sichtbar war, heraus. Ja, war das denn überhaupt noch die Lolo? War das denn nicht der große braune Affe, den sie neulich im Zoologischen Garten gesehen? Jetzt fletschte er sogar noch die Zähne und - ein lauter Aufschrei gellte von Annemaries Lippen durch die achte Klasse.
Die neben ihr sitzende Margot packte die Freundin erschreckt