Nesthäkchen im Kinderheim. Else Ury
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Читать онлайн книгу Nesthäkchen im Kinderheim - Else Ury страница 5
Fräulein Hering aber trat kopfschüttelnd zur ersten Bank. Bei all ihrer Zuneigung für das reizende Mädchen, das durfte sie doch nicht durchgehen lassen.
»Annemarie, ist dir was?«fragte sie.
»Nein - ich weiß nicht - mein Kopf tut so doll weh - und - und ich graule mich so vor der Puppe.« Annemarie begann zu weinen, während die Klasse über das große dumme Mädel laut zu lachen begann.
Fräulein Hering gebot Ruhe und fühlte Annemaries Stirn.
»Genau wie Mutti« dachte Annemarie und schloß beruhigt die Augen. Mutti war bei ihr – sicher – wer konnte denn sonst so zärtlich über ihre Locken streichen? Ach, wenn Mutti bei ihr war, dann war ja alles gut.
»Du hast Fieber, mein Kind,« hörte sie jemand sagen. Doch das war nicht Muttis Stimme, nein, das war ja die von Fräulein Hering. Wie aus weiter Ferne klang sie an Annemaries Ohr. »Du mußt nach Haus gehen, mein Herzchen, aber ich wage nicht, dich allein zu schicken, da dir nicht gut zumute ist. Ich werde dich nach der Stunde selbst heimbringen.«
Es war zweifelhaft, ob das fiebernde Kind die freundlichen Worte begriffen hatte. Es hatte den Kopf auf den Schultisch gelegt, grade auf den hellblauen Puppenlappen. Die Mienen der anderen Kinder zeigten Bestürzung und Teilnahme; während die schwarze Lolo ein wütendes Gesicht machte, weil sie das schöne blaue Kleid nicht bekam.
Als die Schulglocke schrill durch alle Klassen gellte, fuhr Annemarie aus dem Halbschlaf, der sie umfangen, wieder weinend empor. Aber die gütigen Worte ihrer Lieblingslehrerin beruhigten sie. Fräulein Hering setzte Annemarie eigenhändig die Mütze auf die Locken und zog ihr den Mantel an. Vorsorglich schlug sie ihr den Kragen desselben hoch, damit sich das Kind, dessen Backen glühten, nicht noch draußen in der scharfen Märzluft erkälte. Margot schnallte ihr mit mitleidigen Augen die Mappe auf, und gab ihr Lolo in den Arm.
Da aber begann Annemarie wieder zu schreien. Das schwarze Negergesicht der Puppe flößte ihr Grauen ein. Fräulein Hering nahm die Puppe selbst. Mit dem anderen Arm umschlang sie die erkrankte Annemarie. Aber so liebevoll die Lehrerin sie auch stützte, die Kleine vermochte kaum zu gehen. Die Beine waren ihr so schwer, als ob tausend Gewichte daran hingen. Nur mit Mühe kamen sie die breiten Steintreppen hinab.
Der Schuldiener mußte ein Auto holen. Unter neidischen Kinderblicken nahm Annemarie mit der allgemein beliebten Lehrerin darin Platz.
Ach – Annemarie war nicht beneidenswert. In ihren Schläfen hämmerte und pochte es, der Kopf, den sie an Fräulein Herings Schulter lehnte, zersprang ihr fast vor Schmerzen. Das Töffen und Rattern des Autos, das ihr immer solchen Spaß gemacht, verursachte ihr geradezu eine körperliche Pein. Und die Fahrt, sonst für Annemarie der Gipfelpunkt aller Wünsche, ließ sie ganz gleichgültig. In wenigen Minuten hielt das Auto vor dem hohen Haus, in dem Doktor Braun wohnte.
Der Hausmeister stand im Vorgärtchen und beschnitt die Sträucher. Als er sah, daß die Dame sich vergeblich mühte, die Kleine von Doktors aus dem Wagen zu heben, sprang er herzu und trug Annemarie auf seinen Armen die Treppe hinauf. Denn selbst der Hausmeister hatte das freundliche Kind in sein Herz geschlossen.
O weh – was bekam Frau Doktor Braun für einen Schreck, als ihr Nesthäkchen ihr so nach Hause gebracht wurde. Nachdem sich Fräulein Hering mit den besten Wünschen für die kleine Patientin, die Fräulein inzwischen zu Bett gebracht hatte, empfohlen, legte die Mutter als tüchtige Doktorfrau sofort das Thermometer ein. Das schnellte fast bis vierzig Grad empor.
Um Himmelswillen – was war mit dem Kinde? So hoch hatte Annemarie noch nie gefiebert. Die geängstigte Mutter eilte ans Telefon, ihren Mann aus seiner Klinik herbeizurufen.
Bald stand Doktor Braun an dem Bett seines Kindes und untersuchte es eingehend. Zuerst erkannte es den Vater gar nicht, sondern hielt ihn für den Hausmeister. Aber als der Vater ihr seine kühle Hand auf die brennende Stirn legte und zärtlich sagte: »Meine dumme, kleine Lotte, das war nicht nötig gewesen!« da schlug Annemarie die Augen auf und sah den Vater mit unklarem Blick an.
»Mir tut mein Hals so doll weh!« wimmerte sie. Dann verschwommen Vaters blonder Bart mit dem Kornblumenmuster der Tapete – Annemarie tauchte wieder unter in die Welt der Fieberträume.
Sie hörte nicht die ernsten Worte, die der Vater zu der vor Aufregung blassen Mutter sprach: »Unsere Lotte ist sehr krank – sie hat Scharlach. Der Körper zeigt bereits die kennzeichnenden Flecke. Es ist unmöglich, daß wir das Kind im Hause behalten. Erstens der beiden Jungen wegen, und zweitens wegen der Ansteckungsgefahr für meine in die Sprechstunde kommenden Patienten. Ich muß das Kind, so schwer es mir wird, aus dem Hause geben und nach meiner Klinik bringen lassen.«
Da aber begann Frau Doktor Braun zu jammern: »Was, mein Nesthäkchen, meine Lotte soll ich fortgeben, wenn sie so krank ist – nein, Edmund, das bringe ich nicht übers Herz. Ich trenne mich nicht von meinem Kinde, dann siedele ich mit ihr in die Klinik über.«
»Daran habe ich auch gedacht, Elsbeth. Aber du bist dann für viele Wochen von unserm Hause und den Jungen vollständig getrennt. Annemarie bedarf deiner nicht, ich würde ihre Pflege Schwester Elfriede übergeben. Besser als bei der kann sie selbst bei der eigenen Mutter nicht aufgehoben sein. Und denke nur, wie Klaus in deiner Abwesenheit verwildern würde, vor Fräulein hat der Schlingel wenig Respekt. Und ich selbst bin doch nur während der Mahlzeiten und der Sprechstunden zu Hause. Ich komme ja täglich zweimal in die Klinik und sehe nach dem Kinde. Mit Gottes Hilfe bringe ich dir unsere Lotte ganz gesund wieder heim.« So überzeugungsvoll klang es aus dem Munde des Arztes, daß seine Frau sich schweren Herzens in das Unvermeidliche fügte.
Annemarie ahnte nichts von dem, was über ihre nächste Zukunft bestimmt wurde. Sie hörte nicht, daß Vater telefonisch einen Krankenwagen bestellte. Unruhig wälzte sie sich in ihren Kissen umher, stöhnte und wimmerte von Zeit zu Zeit. Auch als Vater sie, in Decken und Kissen verpackt, aus ihrem Kinderzimmer trug, um sie in den unten bereitstehenden Krankenwagen zu bringen, schlug sie die Augen nicht auf.
Mit tränenverschleierten Blicken sah Mutti ihr Nesthäkchen, von dem sie sich kaum jemals im Leben getrennt hatte, an sich vorübertragen. Ihre Hände falteten sich in Herzensangst, und ein inbrünstiges Gebet stieg aus gepreßtem Mutterherzen zum Allvater empor: »Lieber Gott, erhalte sie mir, – gib mir meine Lotte gesund wieder!«
Fräulein, das gute Gesicht selbst von Tränen benetzt, stützte Frau Doktor Braun. Ihr war es nicht viel leichter ums Herz als der Mutter, hatte sie doch Annemarie von klein auf unter ihrer treuen Obhut gehabt. Wie gern wäre sie mit in die Klinik gegangen und hätte die kleine Kranke gepflegt. Aber Doktor Braun meinte, eine Berufspflegerin sei besser am Platz.
Durch die Türspalte lugten Hans und Klaus mit erregten, ängstlichen Gesichtern. Köchin Hanne aber, die schon seit Annemaries Geburt im Hause war, schluchzte zum Gotterbarmen, daß man ihnen ihr Kind fortnahm. Auch Puck, das kleine Zwerghündchen, Annemaries lustiger Gespiele, empfand die Schwere der Stunde. Er lief bis zum ersten Treppenabsatz hinter seinem Herrn her und kroch dann leise winselnd zurück zu Frau Doktor, der er tröstend die Hand leckte.
»Selbst das unvernünftige Vieh weint um unser Kind!« schluchzte Hanne und wischte sich das nasse breite Gesicht mit dem blauen Schürzenzipfel.
Gerade als Annemarie in den Wagen mit dem roten Kreuz gebettet wurde, kam Margot Thielen aus der Schule. Mit entsetzten Augen sah sie den Menschenauflauf, der sich neugierig vor dem Haus zusammengefunden. Brachte man da die Annemie nicht fort? O Gott – so schlimm stand es also mit ihr?
Tage