Nesthäkchen im Kinderheim. Else Ury

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Nesthäkchen im Kinderheim - Else Ury

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Stupsnäschen herum – au, wie das krabbelte.

      »Hatschi« – und nochmals »hatschi« machte Annemarie, und nun schlug sie doch die Blauaugen auf.

      Erstaunt rieb sie sich dieselben. Ja, träumte sie noch oder wachte sie? Da stand ja ein richtiger weißgedeckter Geburtstagstisch vor ihrem Bette mit zehn brennenden bunten Lichtchen und einem langen Lebenslicht. Ganz wie zu Hause. Blumen über Blumen waren auf den Tisch gestreut, Blauveilchen, Schneeglöckchen und gelbe Mimosen. Und dazwischen lagen viele Geschenke – mit einem Jubellaut griff das Geburtstagskind danach.

      Handfertigkeitskasten, Würfel- und Gesellschaftsspiele, eine Puppenschneiderei, bunte Bleie und Postkarten zum Austuschen dazu, Kopfzerbrecher und – hurra – auch ein neues Geschichtenbuch. Im Umsehen waren alle trüben Gedanken Annemaries wie fortgeblasen.

      Aber wo steckte denn bloß Schwester Elfriede, die das alles so liebevoll für sie hergerichtet? Annemarie wandte suchend den Kopf, um ihr zu danken. Da war keine Schwester Elfriede, aber einer, bei dessen Anblick die Kleine aufs neue in Jubel ausbrach. Hinter ihr stand der Vater. Lächelnd schaute er das Glück seiner Lotte.

      In aller Herrgottsfrühe war der gute Vater schon in die Klinik gekommen, um seinem kranken Töchterchen eigenhändig den Geburtstagstisch aufzubauen. Wie hätte er es seiner Frau gegönnt, die Freude ihres jetzt zehnjährigen Nesthäkchens mitanzusehen. Nur über eines jammerte Annemarie noch, daß sie dem Vater nicht mal heute an ihrem Geburtstage einen Kuß geben durfte.

      Nun zog der Vater sämtliche Gratulationsbriefe hervor. In jeder Tasche hatte er einen. Alle, alle hatten sie an die Annemarie geschrieben. Zuerst kam natürlich Muttis Brief heran. Da rann allerdings ein blinkender Tropfen Annemaries Stupsnäschen herunter, als sie die zärtlichen Worte und Wünsche, welche die Mutter zum erstenmal im Leben ihrem Kinde schreiben mußte, las. Aber der übermütige Brief von Klaus, der ihr »mit einer Träne im Knopfloch und mit einem Veilchenstrauß im Auge« Glück wünschte, stimmte sie gleich wieder heiter. Fräulein und Hans, ja selbst Hanne hatte an »ihr Kind« geschrieben.

      »Vatchen, die Hanne hat sicherlich statt einer Feder den Schrubber zum Schreiben genommen. Sieh bloß mal«, Annemarie konnte sich gar nicht vor Lachen über die ungelenken Schriftzüge beruhigen.

      Schwester Elfriede brachte das Frühstück und beglückwünschte ihre kleine Pflegebefohlene mit einem neuen Rätselbuch, da Annemarie ja von ihren alten Rätseln nichts mehr wissen wollte. Sie mußte sogleich Hannes Brief mit anhören. Ausgelassen las ihn das Geburtstagskind vor:

      Mein lihbes Annemiehchen!

      Ich gradulihre Dich auch zu Deinen Zähnten Gebuhrzdag und Wünsche Dich Gottes Sägen und immer Hübsch Gesunt. Und der Kuhchen Backe Ich Dich nach, wenn Du Man ärst Wieder Nachhause derfst. Du fählst mich Sehr und Ich Grieße Dir vielmals von Deine alte Hanne.

      Und immer neue Briefe und Blumen kamen. Bunte Ansichtskarten von Margot und allen anderen Schulfreundinnen. Nein, war das aber nett, selbst ihr liebes Fräulein Hering hatte ihr eine Glückwunschkarte geschrieben. Die gute Großmama, die sich fast noch mehr Sorgen um ihr krankes Enkelchen machte, als selbst Mutti, schenkte ihr einen Phonographen. Die drolligsten Walzen hatte sie dazu ausgesucht, um ihrem Herzblatt die Zeit zu vertreiben.

      Tante Albertinchen aber mit den grauen Ringellöckchen, deren Liebling sie war, sandte ihr ein Glückskleetöpfchen. Süß war das, Annemarie nahm sich vor, es ganz besonders gut zu pflegen.

      Noch eine Überraschung brachte der festliche Tag.

      Am Abend, als Vater noch einmal nach seinem Töchterchen sah, sagte er geheimnisvoll: »Ach, beinahe hätte ich es vergessen, ich habe dir ja noch einen Geburtstagsgast mitgebracht, Lotte.«

      »Mutti?!« halb jauchzend, halb zaghaft fragend klang es, als ob Annemarie das große Glück gar nicht zu fassen vermochte.

      »Nein, du Dummchen, Mutti darf doch nicht herkommen. Das weißt du ja. Es ist ein anderer – rate mal!«

      Annemarie zerbrach sich den Kopf. Es gab keinen ihrer Verwandten und Bekannten, den sie nicht nannte. Aber jedesmal schüttelte der Vater den Kopf.

      »Jemand, der sich nicht anstecken kann«, kam ihr der Vater zu Hilfe.

      »Am Ende Puck?« sehr erfreut klang das gerade nicht.

      »Nein, der würde hier doch etwas zu lebhaft sein«, lachte Doktor Braun. »Da, du schlechte Puppenmutter, diese junge Dame möchte dir gern gratulieren.«

      »Gerda« – jubelnd rief es Nesthäkchen. Wie lange war es her, daß sie nicht solche Freude mit ihrer Puppe gehabt hatte! Doch wenigstens eine, der sie heute einen Kuß geben durfte. Denn Gerdas Gesicht war aus Zelluloid und konnte mit Lysol abgewaschen werden. Ordentlich gerührt war Annemarie, daß ihre alte Puppe, die sie im letzten Jahr so arg vernachlässigt, jetzt zu ihr kam, wo sie krank und allein war. Das kleine Mädchen hatte das Gefühl, als ob sie nun ihre allerbeste Freundin bei sich habe.

      Wie hübsch Puppe Gerda wieder aussah! Neue glänzend braune Augen hatte sie bekommen. Die blonden Zöpfchen, die sich Annemarie vor Jahren mal selbst abgeschnitten hatte, damit ihr Puppenkind nicht als Kahlkopf herumlaufen sollte, waren zu niedlichen Schnecken über jedem Ohr aufgesteckt. Genau wie Ilse Hermann in ihrer Klasse! Ein wunderhübsches weißes Matrosenkleid hatte Fräulein ihr genäht, und die grüne Sportjacke hatte sicherlich Mutti ihr gehäkelt. Und wieviel Kleider und Hüte konnte Annemarie ihrer Gerda aus der neuen Puppenschneiderei noch selbst anfertigen. Schwester Elfriede versprach, ihr beim Zuschneiden behilflich zu sein. Annemarie wurde nicht müde, die Zusammenstellung der Farben zu überlegen und hübsche Macharten ausfindig zu machen.

      Als Schwester Elfriede endlich Nacht machen konnte, da schlief die große, jetzt zehnjährige Annemarie ein wie früher das kleine Annemariechen – ihre Puppe Gerda fest im Arme. Noch im Einschlummern dachte sie dankbar: »Eigentlich war mein Geburtstag auch ohne Kindergesellschaft sehr schön – nur zu Hause bei Mutti möchte ich ihn im nächsten Jahr wieder feiern.«

      4. Kapitel

      Genesung

      Die Tage kamen und gingen. Die kahle Birke, deren violette bräunliche Zweige gegen das Fenster von Annemaries Krankenstübchen rauschten, bekam kleine Knospen. Und eines Tages waren sie alle nach einem linden Regen aufgesprungen, und winzige goldgelbe Blättchen wagten sich zaghaft an das Licht.

      Von einem Tage zum andern beobachtete das kranke kleine Mädchen, wie die Birkenblättchen, die ihr Frühlingsgrüße brachten, größer und größer wurden. Mit lichten Schleiern überrieselt, wie eine Braut, stand die junge Birke jetzt schon da. Und immer noch mußte Doktors Nesthäkchen im Bett liegen.

      Aber Langeweile hatte es nicht mehr. Dafür sorgte getreulich Puppe Gerda. Annemarie wurde während ihrer Krankheit wieder ein eifriges Puppenmütterchen. Nur wenn die Sonne gar zu lustig durch das Fenster hineinblinzelte und hinaus ins Freie lockte, kam sich Annemarie wie ein gefangenes Vögelchen vor. Ach, jetzt spielten Hans und Klaus wieder Fußball draußen auf den Wiesen in Treptow, und ihre Freundinnen konnten jeden Nachmittag in dem frühlingsgrünen Tiergarten umhertollen. Nur sie durfte nicht aus ihrem Käfig heraus. Täglich quälte sie den Vater: »Vatchen, liebes einziges Vatichen, darf ich denn noch immer nicht aufstehen?«

      Aber Vater vertröstete seine Lotte von einer Woche zur andern.

      So ging der April hin, und der Lenzmonat, der Mai, hielt seinen Einzug in die Welt. Da sagte Doktor Braun endlich eines Tages zu Schwester

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