Nesthäkchen im Kinderheim. Else Ury
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Читать онлайн книгу Nesthäkchen im Kinderheim - Else Ury страница 6
Der Zensurentag, vor dem Annemarie heimlich gebangt, war inzwischen herangekommen. Margot, die sich täglich nach dem Befinden ihrer kranken Freundin erkundigte, hatte Annemaries Zeugnis mit nach Haus gebracht. Den ersten Platz hatte Annemarie allerdings räumen müssen. Marlene Ulrich hatte ihn errungen. Annemarie war die Dritte geworden, aber im Betragen stand »lobenswert«. Nun hätte sie ihre Kindergesellschaft geben können, wenn – ja, wenn nicht eben alles ganz anders gekommen wäre.
Durch das unverhangene Fenster blinzelte die Aprilsonne in das Krankenzimmer. Seit acht Tagen gab sie sich redlich Mühe, die schönsten goldenen Kringel und Sterne an die weißgetünchte Wand zu malen, um das kranke kleine Mädchen zu erfreuen. Doch das hatte dessen nicht acht. Es machte seine Augen nicht auf.
Aber heute – die goldenen Strahlenbeinchen der Sonne vollführten einen Luftsprung vor Freude – heute hatte die Annemarie zum erstenmal ihre Blauaugen geöffnet. Verwundert sah sie sich in der fremden Umgebung um.
Nanu – was war denn mit ihrer Kinderstube vorgegangen? Die hatte doch früher schöne blaue Kornblumentapete gehabt? Und wo war denn ihr weißes Kindertischchen, ihr Pult, die Puppenecke und das Wandbrett mit all ihren Spielsachen hingekommen? Kahle weiße Wände, wohin sie auch blickte. Und der Baum, dessen Zweige der Wind gegen die Scheiben schlug, war doch früher auch nicht vor ihrem Kinderstubenfenster gewesen?
Annemarie versuchte nachzudenken. Doch der Kopf war ihr so wüst, als ob alle Gedanken darin durcheinandergewirbelt wären. Da tat sie das, was ein Kind immer tut, wenn es sich keinen Rat weiß, sie rief weinerlich »Mutti«.
Aber keine Mutti kam. Schwester Elfriede, welche hinausgegangen war, um eine Tasse Milch für die kleine Patientin zu holen, eilte auf das laute Schreien: »Mutti – Fräulein – Mutti!« schnell an das Bett ihrer Pflegebefohlenen zurück.
»Still, Herzchen, weine nicht« – freundlich strich die Schwester über Annemaries Locken, die ebenso wirr waren wie ihre Gedanken.
Doktors Nesthäkchen hielt jäh im Weinen inne. Die großen blauen Augen, die in dem schmalgewordenen Kindergesicht noch größer erschienen, weiteten sich vor Staunen unnatürlich.
Wer war denn das? Die kannte sie doch gar nicht. Wo hatte sie bloß schon mal jemand gesehen, der solch blauweiß gestreiftes Kleid und solch ein weißes Häubchen getragen hatte? Die Kleine konnte sich nicht darauf besinnen, denn der Kopf schmerzte sie noch immer. Hatte sie irgendeine böse Fee verzaubert, wie das in ihren Märchenbüchern öfters vorkam?
Inzwischen führte Schwester Elfriede dem kleinen Mädchen die Tasse Milch zum Munde.
»Trink, Herzchen.«
Aber Annemarie stieß die Hand mit der Milch fort: »Nein – nein, Mutti soll kommen oder Fräulein!« sie begann aufs neue zu weinen.
»Ei, Annemarie, wenn du schön brav bist und deine Milch trinkst, dann kommt bald der Papa, in einer halben Stunde ist er hier,« tröstete die sanfte Schwester.
Papa – den hatte doch bloß Margot. Sie hatte keinen Papa, sondern einen Vater oder »Vatchen«, wie sie ihn meistens nannte. Aber der freundliche Zuspruch verfehlte seine Wirkung nicht. Annemarie wurde ruhiger und trank ihre Milch.
Dann lag sie wieder ganz still in dem Gefühl lähmender Mattigkeit, die nach tagelangem hohen Fieber einzutreten pflegt. Durch die langen Wimpern blinzelnd, sah sie zu, wie die Fremde in dem blauweißgestreiften Kleid die gebrauchten Gegenstände säuberte.
Ach – es wurde plötzlich heller in Annemaries dämmernden Gedanken – das war sicher das neue Hausmädchen, das zu Ostern zuziehen sollte.
»Heißen Sie auch Frieda?« fragte sie. Denn so hatte die frühere geheißen.
»Nein, aber Elfriede«, lautete die freundliche Antwort. Die Schwester sprach mit Willen möglichst wenig mit dem kranken Kinde, um das gesunkene Fieber nicht wieder zu steigern.
»Waren Sie früher auch bei Kindern?« Annemaries Interesse an der Neuen war geweckt.
»Ja, ab und zu, wie es sich gerade machte.«
»Woher sind Sie denn?«
»Aus Berlin.«
Annemarie wunderte sich sehr. Die Mädchen, die sie sonst gehabt, waren aus Pommern, Schlesien oder Ostpreußen gewesen.
»Werden Sie sich auch mit Hanne vertragen? Unsere frühere Frieda hat sich oft mit ihr verkracht. Aber sie meint es nicht böse, die Hanne, wenn sie auch manchmal schimpft.«
Schwester Elfriede sah das Kind aufmerksam an. Fieberte es etwa schon wieder? Unter ihrem prüfenden Blick kam Annemarie wieder das Gefühl des Fremdseins, das sie während der Unterhaltung fast vergessen.
»Hanne soll kommen, wenn Mutti und Fräulein fortgegangen sind – ach bitte, bitte, rufen Sie wenigstens Hanne herein.«
»Hanne ist auch nicht hier, mein Herzchen – schlaf noch ein bißchen, und wenn du aufwachst, ist der Papa da«, redete ihr die Schwester zu.
Aber davon wollte die kleine Patientin nichts hören. Es begann wieder weinerlich um ihre Mundwinkel zu zucken. Denn Doktors Nesthäkchen war bei all seiner Liebenswürdigkeit ein etwas verwöhntes junges Fräulein. Und durch die Krankheit kam dies noch mehr zum Ausdruck.
Wieder begann ein lautes Rufen nach Mutti, Fräulein und Hanne – Schwester Elfriede stand ratlos. All ihre freundlichen Worte wollten nichts nützen.
Zum Glück war es gerade die Zeit für Doktor Brauns Nachmittagsbesuch in der Klinik. Sein erster Weg galt natürlich seinem Kinde.
Auf dem Flur schon vernahm der Arzt das Weinen und Rufen seines kranken Nesthäkchens. War es endlich bei Besinnung? War eine Besserung eingetreten?
Mit hastigem Schritt öffnete er die Tür.
»Vatchen –« das weinende Gesichtchen verklärte sich förmlich – »Vatchen, liebes Vatchen!« Annemarie klammerte sich fest an Vaters Hand.
Aber auch Doktor Brauns Gesicht sah verklärt drein. Ein Blick ließ den erfahrenen Arzt sofort die Wendung zum Guten erkennen.
»Lotte, dumme kleine Lotte, warum weinst du denn?« zärtlich wischte er seinem Liebling die Tränen von den bleich gewordenen Wangen.
»Weil – weil Mutti und Fräulein fortgegangen sind, und weil die neue Elfriede nicht mal Hanne rufen will. Und denn – meine Kinderstube sieht ja so komisch aus – ganz anders – nein, wirklich, Vatchen, der Baum da vorm Fenster muß über Nacht gewachsen sein.«
Doktor Braun und Schwester Elfriede sahen sich lächelnd an. Dann begann der Arzt die Untersuchung.
»Bin ich denn krank?« verwunderte sich Annemarie.
»Ja, mein Liebling, du warst sehr krank und hast uns große Sorgen gemacht. Aber nun wird meine Lotte mit Gottes Hilfe bald gesund werden, wenn sie brav folgt und nicht weint und nach Mutti ruft. Schwester Elfriede sorgt ja so lieb für dich – – –«
»Schwester