Sprachlos studieren - Mein Auslandssemester in Lateinamerika, Costa Rica. Manuela Dörr
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Alle meinen Sorgen sind verflogen, Ablenkung hilft immer. Das ist es, was ich in Costa Rica suche, Menschen treffen und von ihren Lebenserfahrungen lernen.
„Spanisch klingt besser als Französisch“, stellt er fest.
„Hast du eigentlich Kinder?“, frage ich. Gut, dass das englische ‚Sie‘ und ‚Du‘ identisch sind, im Deutschen oder Spanischen fände ich es merkwürdig, ihn zu duzen.
„Ja, ich habe drei Kinder, das erste bekam ich, als ich in deinem Alter war. Da hörte ich auf zu reisen und nahm meine Leidenschaft erst später wieder auf“, er schaut mich durch seine Brille an. Als einer der wenigen im Hostel trägt er ein Hemd, die meisten tragen bequeme T-Shirts.
„Als ich sechzehn Jahre alt war, bin ich mit meinem Vater von Berlin hoch nach Schweden gefahren. Ich hatte keinen Führerschein, aber trotzdem wechselten wir uns ab und fuhren die Strecke in einem durch. Abenteuerlust hat das in mir geweckt! Deshalb liebe ich es auch besonders, über die Abenteuer anderer zu lesen.“
Wir sprechen über Städte, über Afrika und Lateinamerika und irgendwie kennt er zu jeder Gegebenheit und jedem Ort eine Geschichte. Ich bin froh, vor einiger Zeit die geografischen Positionen vieler Länder der Erde gelernt zu haben und zumindest grob seinen Reisen folgen zu können. Als ein Backpacker aus Washington sich zu uns gesellt, berichtet Ingvar davon, wie er einmal mit dem Auto durch Boston fuhr.
Die meisten Hostelbesucher verbringen Ewigkeiten damit, ihre weiteren Routen zu planen. Kaum jemand geht bis in die Nacht hinein feiern, die meisten freuen sich darüber, zusammen auf der Couch zu sitzen und zu reden, zu relaxen, sich über die Gegend und ihre bisherigen Erlebnisse auszutauschen. Gestern Abend habe ich mich auf Französisch, Englisch, Deutsch und Spanisch unterhalten. Eine faszinierende Erfahrung, wenn man sich mit jedem Landsmann verständigen kann.
„Jeden Tag wird nicht nur mein Spanisch, sondern auch mein Englisch besser. Daran habe ich nie gedacht“, bemerke ich und bohre den Kopfhörer meines Headsets noch weiter ins Ohr.
„Aha, aber hat sich der ganze Aufwand dafür denn gelohnt? Das war ja schon viel“, entgegnet mir Hannah.
„Hannah, ich habe schon so viel gelernt, das kann man nicht beschreiben! Es kommt mir vor, als ob ich schon eine Ewigkeit hier wäre. Dabei sind es gerade mal zwei Wochen. Alles ist neu!“, ich kann gar nicht stoppen, ich bin begeistert. Ich rutsche ein Stück auf der Couch zur Seite, denn jemand möchte sich ebenfalls setzen. Ich versuche leiser zu sprechen.
„Und bist du noch immer so aufgeregt und machst dir so viele Gedanken, dass etwas nicht klappt?“, fragt mich Hannah, die sehr genau weiß, dass ich vor meiner Abreise öfter fast aufgegeben und die ganzen Unterlagen am liebsten in die Ecke geworfen hätte.
„Nein, mir ist jetzt irgendwie alles egal. Ich bin hier und lerne Spanisch, das war mein Ziel“, stelle ich fest und drehe mit den Finger der rechten Hand die Haare meines Pferdeschwanzes um den Zeigefinger, bis er sich zu einer Locke verformt hat, „seit ich in Costa Rica gelandet bin, bin ich viel entspannter. Das sind auch alles nur Menschen. Und die haben die gleichen Sorgen und Ängste, die gleichen Probleme, Hoffnungen und Wünsche.“
Als ich Hannah das erste Mal von meiner Zusage erzählt hatte, war sie zum einen sehr glücklich, zum anderen aber sehr nachdenklich gewesen.
„Das ist gefährlich!“, hatte sie ängstlich festgestellt. Sie dachte, dass Costa Rica eine andere Welt darstellt, in die man sich als Frau alleine niemals, niemals wagen sollte. Eine Männerdomäne bestimmt von Machos. Ich hatte das auch gedacht und wollte es trotzdem hinterfragen.
Ein Rotkehlchen fliegt vor Hannahs Fenster vorbei, als sie mir vom Schnee im Garten ihrer Eltern erzählt. Wer hätte geahnt, dass Hannah in der Natur in Deutschland und ich in einer staubigen Stadt in Costa Rica sitze?
„Bald werde ich in meinem Zimmer wohnen, kann das Licht ein- und ausschalten, wann ich will und Musik hören, ohne mich an ein Kabel binden zu müssen. Bald ziehe ich zu María. Großartig, oder?“, schwärme ich von meinem zukünftigen Zuhause. Die Wohnungssuche mit Annette hatte sich sehr schwierig gestaltet, doch zum Glück habe ich durch eine Freundin von jemandem erfahren, der gerade ein Zimmer frei hat. Dann verabschieden wir uns, Hannah geht schlafen und für mich geht es los.
„Wie soll der ganze Inhalt meines Bettkastens in meinen Koffer passen?“, frage ich Juan, der mir beim Packen zusieht, während er das Nachbarbett bezieht. Er zupft das weiße Laken auf der Schaumstoffmatratze zurecht und setzt sich dann.
„Schenk mir alles, was du nicht brauchst“, grinst er. Recht hat er, denn ich besitze bestimmt fünf Mal so viel wie er. Mir wird das erste Mal richtig bewusst, wie reich ich bin. Wir beziehen mein Bett gemeinsam neu, dann ziehe ich die graue Eingangsgittertür hinter uns zu und lasse sie klackend einrasten. Ich bin raus, meine Reise geht weiter.
Juan läuft vor, ruft mir eines der roten Taxis heran und erklärt dem Fahrer auf Spanisch den Weg zu Marías Haus.
„Du kommst aber bald wieder vorbei, versprochen?“, verabschiedet er mich, drückt mich noch einmal und schon setzt sich die Limousine in Bewegung. Herrlich, nun wird alles besser. Tschüss Hostel Urbano! Mein eigenes Zimmer und mein richtiges eigenes Heim. Endlich ankommen und mich endgültig richtig wohl fühlen!
Ich freue mich riesig, doch dann fährt der Fahrer in die falsche Richtung.
Puntarenas
Ich esse Churchill! Aber nicht etwa Winston Churchill, sondern den legendären Eisbecher ‚Churchill celoso‘ (eifersüchtiger Churchill) vom Küstenort Puntarenas. Bestehend aus crushed Eis, Vanilleeis, Sirup, Milchpulver mit Zucker, Kondensmilch mit Zucker und noch mehr Sirup. Wir fiebern dem Eis schon den ganzen Tag entgegen, ganz anders als in dem über zehn Grad kälteren und tausend Meter höher gelegenen San José.
Ich lasse den dickflüssigen pinken Sirup neben der Eiskugel vorbei in die Tiefen des Glases laufen und bin froh, ihn nicht mit dem überzuckerten Milchpulver vermengen zu müssen. Wir sitzen unter dem Nachthimmel neben aufschlagenden Wellen des Meeres und einer mittelgroßen Marktstraße, auf der eben noch ein aufbrausendes Spektakel stattgefunden hat. In der Ferne lässt sich schemenhaft die Halbinsel Nicoya erahnen, hinter der gerade die Sonne verschwunden ist und den Himmel in Siruppink gefärbt hat. Ansonsten ist dort nichts, kein Boot und auch kein einziger Tanker. Fulin, Fulins Freundin Gisella und ich haben uns auf die weißen Plastikstühle unter das offene Dach des Strandlokals an einen wackeligen Tisch gesetzt und streichen uns den schwarzen Sand von den nassen Beinen. Er ist so fein, dass er sich wie Staub auf die Füße und zwischen die Zehen legt und so warm und weich, dass man sich in ihn hinein kuscheln möchte.
„Zum Glück scheint die Sonne nicht mehr“, bemerkt Fulin erleichtert. Ihr macht die Hitze deutlich zu schaffen. Die Asiatin bindet ihre Haare mit einem lila Plastikhaargummi fix zusammen und wendet sich wieder ihren Schuhen zu. Auch ich habe das Armband meiner Uhr um ein Loch verlängert, da die Haut sich bei der schwitzigen Luft ausgedehnt hat. Als sie sich ihre türkisfarbenen Sandalen wieder anziehen will, bleibt sie immer wieder in den Riemchen hängen. Sie sortiert lachend ihre Zehen.
„Schön ist es hier, stimmt’s? Aber du wirst noch viel schönere Orte in Costa Rica besuchen! Es gibt so viel zu sehen, woran du nicht gedacht hast! Wovon du niemals auch nur geträumt hast.“