Politische Rhetorik der Gewalt. Dr. Detlef Grieswelle
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Der Einfluss öffentlicher Meinung auf die Politik setzt voraus, dass das politische System, das für die Gesellschaft kollektiv verbindliche Entscheidungen erzeugt, so weit demokratisiert ist, um die Meinungen der Bürger ernst nehmen zu müssen. Die Bestimmung politischer Herrschaft auf Zeit durch regelmäßige allgemeine Wahlen ist die zentrale institutionelle Bedingung, um die Aufmerksamkeit der politischen Akteure für öffentliche Meinungsbildungsprozesse strukturell zu sichern. Politische Akteure müssen alles daransetzen, dass öffentliche Kommunikation in ihrem Sinne beeinflusst wird und ihre politischen Interessen sich durchsetzen bei der Bevölkerung. Die große Bedeutung der politischen Kommunikation in moderner Demokratie durch die Macht der Bürgerschaft als Elektorat hat schon Max Weber in seinem klassischen Aufsatz „Politik als Beruf“ zum Ausdruck gebracht, als er sagte, dass die „Politik nun einmal in hervorragendem Maße in der Öffentlichkeit mit den Mitteln des gesprochenen oder geschriebenen Wortes geführt wird“18; zwischen der Herrschaftsordnung und der Kommunikationsordnung einer Gesellschaft besteht also in der Regel ein enger Zusammenhang.
Die politische Ordnung in Demokratien ist ganz wesentlich gekennzeichnet durch den binären Code Regierung/Opposition, wie Luhmann formuliert: Die Herstellung und Durchsetzung kollektiv verbindlicher Entscheidungen lassen sich nur erreichen, wenn politische Akteure Positionen besetzen, die ihnen die Chance der Machtausübung geben. Politische Akteure handeln deshalb nach der Maxime, möglichst Regierungspositionen zu erringen und Oppositionspositionen zu vermeiden. Dazu bedürfen sie in Demokratien der Stimmen des Publikums, der Stimmen der Wähler: „Die Maximierung bzw. Optimierung von Wählerstimmen ist also das abgeleitete Ziel der Akteure, wenn sie die Regierungspositionen erringen bzw. erhalten wollen“19. Dazu machen sie politische Angebote, die von Personen, Äußerungen und Forderungen zu aktuellen Fragen über Beschlüsse und Entscheidungen bis hin zu Grundsatzpapieren, Partei- und Wahlprogrammen reichen und die ihnen möglichst viele Wählerstimmen einbringen. Die Akteure des politischen Systems beobachten sich selbst und die anderen Akteure vor allem über das Mediensystem und versuchen mit ihren kommunikativen Handlungen, das Bild von sich und den anderen Akteuren in der politischen Öffentlichkeit so zu gestalten, dass sie Aufmerksamkeit und Zustimmung beim Publikum gewinnen für die eigenen Positionen und Personen.
Gemessen an der früheren bürgerlichen Öffentlichkeit des 19. Jahrhunderts und des räsonierenden Publikums der gesellig miteinander verkehrenden interessierten, informierten und gebildeten Privatleute hat sich die Öffentlichkeit in der modernen Massengesellschaft nicht nur zahlenmäßig ausgeweitet, sondern sich parteien- und verbändepluralistisch ungeheuer diversifiziert und in zahlreiche Machtkomplexe organisierter Teilöffentlichkeiten fragmentiert, die ihre Interessen an marktgängiger Publizität mit kommunikativer Professionalität verfolgen. Obwohl im Verständnis demokratischer Kultur die politische Mündigkeit nicht nur Einzelnen oder kleinen Gruppen zugestanden wird, sondern etwas darstellt, was alle zu gleichen Teilen besitzen, zeigen sich in der sozialen Wirklichkeit doch beträchtliche Chancenunterschiede für öffentliche Partizipation und Einflussnahme. Bei allen normativen Bedingungen politischer Öffentlichkeit wie Meinungs- und Informationsfreiheit, Vereinigungs- und Versammlungsfreiheit, Pressefreiheit usf. und dem Verbot an den Staat, den Bürgern den „Mund zu verbieten“, ist öffentliche Meinungsbildung in hohem Maße an kollektive Organisationen und die Macht der Medien, Parteien und Verbände gebunden. Frei diskutierende Privatleute der bürgerlichen Öffentlichkeit sind nicht mehr in der Lage, politische Herrschaft zu kontrollieren und ihre Entscheidungen zu beeinflussen, es fehlt ihnen an Zeit, an Macht und Kompetenz; die Großorganisationen haben viel größere Durchsetzungschancen, sie haben sich der Öffentlichkeit bemächtigt, sie prägen die Willensbildung. Politische Diskussionen werden wenig von Privatleuten, sondern vor dem Publikum der Privatleute geführt, staatsbezogen agierende Mächte wie Parteien, Verbände und Massenmedien halten mit ihren professionellen Apparaten den Bereich der Öffentlichkeit weitgehend besetzt. Politisches Öffentlichkeitsmarketing ist vor allem Teil der Partei- und Staatsrollen, auch der großen Interessenorganisationen, insbesondere der Spitzenverbände. Zu den Akteuren der Interessenartikulation gehören auch kulturelle Einrichtungen, „public interest groups“, die Kollektivgüterinteressen vertreten (Umwelt, Verbraucherschutz), Kirchen, karitative Verbände, auch weniger organisierte und vermachtete soziale Bewegungen und spontane Vereinigungen.
Für eine rhetorische Betrachtungsweise über Öffentlichkeit und öffentliche Meinung trifft es sich gut, dass öffentlichkeitssoziologische Analysen20, wie wir sie diskutieren, dem rhetorischen Ansatz verpflichtet sind und sich häufig expressis verbis hierauf beziehen. Moderne Öffentlichkeit ist entsprechend diesem Modell ein relativ frei zugängliches Kommunikationsfeld, in dem Akteure (Sprecher) mit ihren Kommunikationsbeiträgen in der Regel über Massenmedien und ihre Foren/Arenen versuchen, beim Publikum Aufmerksamkeit und Zustimmung zu finden. Alle wesentlichen Fragen der Rhetorik wie das Sozialkapital eines Redners in Form beispielsweise von Prominenz und Prestige, die eingesetzten Thematisierungs- und Überzeugungsstrategien, verschiedene Kommunikationsstile, das Vertrauen des Publikums in Medien und Öffentlichkeitsakteure, die unterschiedlichen sozialen Strukturen und Segmentierungen des Publikums, die Bedeutung sozialer Netzwerke für die Meinungsbildung des Einzelnen usf. finden in der Öffentlichkeitssoziologie Beachtung. Besonders betont wird, dass in der modernen Mediengesellschaft die Grenzen des Publikums schwer bestimmbar sind, die prinzipielle Unabgeschlossenheit konstitutiv ist. Entsprechend ist in einem solchen Kommunikations-system die Meinungs- und Willensbildung schwer zu steuern. Weiterhin ist vor allem zu beachten, dass das Publikum, auf das sich die Interessen der Öffentlichkeitsakteure richten, in demokratisch-marktwirtschaftlich verfassten Ordnungen vor allem als Elektorat und Kundschaft strategische Bedeutung hat. „Die politischen Interessen ergeben sich für die Sprecher aus dem strategischen Stellenwert des Publikums als Elektorat, die ökonomischen Interessen für die Medien aus dem Umstand, dass das Publikum sowohl die eigene Kundschaft darstellt als auch die Kundschaft jener Interessenten enthält, für die die Medien als Werbeträger dienen. Insoweit stellt sich Öffentlichkeit für Sprecher und Medien als ein Markt dar, und dieser Markt wird bestimmt durch Konkurrenzen“21.
Außerdem gilt es festzuhalten, dass im Rahmen des Forumsmodells der soziologischen Öffentlichkeitstheorie „öffentliche Meinung“ nicht zu verstehen ist im Sinne individueller Einstellungen bzw. Meinungen der Bevölkerung, sondern von Meinungen, die in öffentlicher Kommunikation geäußert werden und die von einem mehr oder weniger großen Publikum wahrgenommen werden können. „Öffentliche Meinung“ bezieht sich also nicht auf Bevölkerungsmeinung, sondern auf medial vermittelte Meinungsäußerung von Sprechern vor einem Publikum. Weiterhin ist „öffentliche Meinung“ nicht einfach die Summe aller öffentlich geäußerten Meinungen, sondern jenes kollektive Produkt von Kommunikation, das durch Fokussierungen auf Themen und Synthetisierung von Meinungen hohe Konsonanzgrade aufweist, bisweilen sogar herrschende Meinung darstellt mit normativer Kraft, die also bei Abweichung eines Sprechers eine Mehrzahl anderer Sprecher zu Widerstand und Gegnerschaft veranlasst. Die Menschen bilden zwar ihre eigene Meinung in hohem Maße an der öffentlichen Meinung, sie orientieren sich dabei aber häufig nicht an der Wirklichkeit, sondern an ihren Eindrücken von öffentlicher Meinung und vor allem herrschender Meinung, und überschätzen oft sowohl deren Konsonanz wie auch deren Überzeugungskraft auf das Publikum.
Was nun die Akteure in moderner Öffentlichkeit betrifft, so ist es in der Regel eine Minderheit von Sprechern, die sich an eine große Mehrheit von Zuhörern wendet. Moderne Kommunikationsmittel haben Kommunikationszusammenhänge mit großen Teilnehmerzahlen ermöglicht, das bedingt per se eine Ungleichheit von Sprecher- und Hörerrollen.
Neben dieser fundamentalen Ungleichheit gibt es Ungleichheiten zwischen Sprechern, die als Asymmetrien in Kommunikationen bezeichnet werden. Drei Grundformen lassen sich unterscheiden. Zunächst einmal