Politische Rhetorik der Gewalt. Dr. Detlef Grieswelle
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In der politischen Soziologie wurde in der Vergangenheit vielfach betont, dass die Politikvermittlung in westlichen Demokratien immer bedeutsamer geworden sei. „Diesen Wandel kann man beschreiben als zunehmende Bedeutung politischer Öffentlichkeit in ihrer Funktion als Beobachtungssystem von Politik und in der Folge als eine Zunahme von Handlungen des politischen Systems im Hinblick auf den Bedeutungszuwachs von politischer Öffentlichkeit“28. Eine wesentliche Ursache hierfür ist ein Wandel der Publikumsrolle im politischen System. Schlagwortartig seien folgende Merkmale genannt: Erhöhung des Bildungsgrades der Bevölkerung und Verbesserung wirtschaftlich-sozialer Lagen mit der Konsequenz gewachsener Beobachtungskompetenz und gewachsener Interessen an Politik – fast alle Bürger der Bundesrepublik beobachten tagtäglich das politische Geschehen in der Gesellschaft; vermehrte Staatstätigkeit und Steigerung der Menge kollektiv verbindlicher Entscheidungen, damit gestiegene Aufmerksamkeit für das politische System; kontinuierliche Erweiterung des Programmangebots, auch an politischen Informationen, vor allem durch Zulassung privater Sender und dementsprechende Einbeziehung politischer Öffentlichkeitsakteure; Wertewandel und Auflösung sozialstruktureller Milieus, Pluralisierung und Individualisierung – vor allem nachlassende Bindung an politische Gruppierungen, mit der Konsequenz eines wachsenden Bedarfs an Überzeugungskommunikation und der Erzeugung von Zustimmung zu Programmen und Entscheidungen. Die gesellschaftliche Entwicklung ist gekennzeichnet durch die abnehmende Verbindlichkeit von Traditionen, reduzierte soziale Kontrollen, eine erhöhte Bereitschaft, sich bietende Wahlfreiheiten zu nutzen, durch eine entsprechende Pluralisierung der Lebensstile. In der Politik zeigen sich diese Entwicklungen ebenfalls in der Weise, dass tradierte politische Milieus aufweichen und soziale Gruppenbezüge für politische Orientierung und Meinungsbildung an Bedeutung verlieren. Wachsende Wahlenthaltungen, ein beweglicheres Wahlverhalten und konsequenterweise weniger Stammwähler, Stagnation oder gar Schrumpfen der Mitglieder in den großen Volksparteien beweisen die nachlassende Bindungskraft in der Politik und eine eher instrumentelle bzw. stimmungsabhängige, gefühlsbetonte Einstellung der Bevölkerung.
Abschließend ist darauf hinzuweisen, dass der öffentlichkeitssoziologische Ansatz mit dem rhetorischen Paradigma auch insofern Gemeinsamkeiten hat, als hier von so manchem Autor an Kommunikationsstrukturen und eine Sphäre öffentlichen Handelns gedacht wird mit bestimmten anspruchsvollen Merkmalen und Funktionen. Hier werden nämlich Kriterien in einem Modell von Öffentlichkeit entwickelt wie die Inklusion möglichst aller Beteiligten in die öffentliche Kommunikation, die Reziprozität von Hörer- und Sprecherrollen in den Beziehungen, eine weitgehende Offenheit für Themen und Beiträge, eine adäquate Kapazität der öffentlichen Sphäre zur Bearbeitung von Problemen und schließlich eine „diskursive“ Struktur der Debatten. Die öffentlichen Kommunikationen in solch hochwertigen Diskursen sollen zu reflektierten Überzeugungen und Urteilen des Publikums und zu rationalen politischen Entscheidungen führen. „Auseinandersetzungen über Problemdefinitionen und Lösungsvorschläge werden mit Argumenten ausgetragen, die Anspruch auf eine kollektive Akzeptanz erheben, welche auf geteilter, zwanglos erzielter Überzeugung beruht“29. Die diskursive Kommunikation erfolgt mit Bezug auf andere Akteure, mit Begründungen auf einem hohen Rationalitätsniveau; Resultate sind der Konsens oder eine argumentativ gestützte Mehrheitsmeinung, Legitimität der Entscheidungen und Gemeinschaftsbildung durch Diskurs. Bisweilen wird eine diskursive Öffentlichkeit in Verbindung gebracht mit bürgernahen individuellen oder kollektiven Akteuren sog. Zivilgesellschaft (zu denen das sog. politische Zentrum und die großen Interessenverbände nicht hinzuzählen), die die Öffentlichkeit dominieren sollen. Habermas unterscheidet eine „autochthone“ von einer „vermachteten“ Öffentlichkeit, wobei bei ersterer vor allem an soziale Bewegungen, freiwillige Assoziationen und informelle Milieus gedacht wird.
Gegen solche normativen Konzepte von Öffentlichkeit gibt es vielerlei berechtigte Einwände, die wichtigsten seien kurz genannt:
1 Das geforderte hohe Maß an politischer Teilnahme und Initiative im politischen Prozess ist illusorisch, weltfern und mit moderner Demokratie nicht vereinbar. Dahrendorf hat schon sehr früh in einer „grenzenlosen“ aktiven Öffentlichkeit aller Bürger einen fundamentaldemokratischen Irrtum gesehen. Dahrendorf unterscheidet in seiner bereits klassisch gewordenen Definition zwischen aktiver, latenter und passiver Öffentlichkeit und kann in hoher politischer Teilnahme keineswegs ein Zeichen „gesunder“, also gefestigter und verlässlicher politischer Verhältnisse erkennen, vielmehr signalisiere sie politische Störungen oder politischen Zwang. Ein erhebliches Maß an politischer Teilnahmslosigkeit gehe durchaus mit repräsentativer Demokratie zusammen, ja sei sogar wünschenswert: „Initiative verlangt Initiatoren (und natürlich Realisierung Realisatoren und Kontrolle Kontrolleure). Dass alle prinzipiell Berechtigten dies leisten, ist unwahrscheinlich, zu fordern, dass alle prinzipiell Berechtigten es leisten sollen, ist für den politischen Prozess hinderlich, wenn nicht vernichtend“30.
2 Zur Politik gehört auch, dass viele Fragen sich nicht durch Konsens bzw. Kompromissfindung lösen lassen, sondern durch Mehrheitsentscheid.
3 Die Akteure im Zentrum der Politik sind in hohem Maße durch Wahl legitimierte Akteure, und es gibt in den verschiedenen Verfahren der Interessenvermittlung wahrscheinlich kein gerechteres Verfahren der Interessenabbildung als das des allgemeinen und gleichen Wahlrechts: „Insofern können die kollektiven Akteure, die durch Wahlen legitimiert sind, auch eine besondere Legitimation in der Öffentlichkeit für sich reklamieren“, meint Gerhards31.
4 Eine diskursiv begründete Mehrheitsmeinung kann für sich nicht mehr Legitimation beanspruchen als eine Mehrheitsmeinung, die ohne anspruchsvollen Diskurs zustande gekommen ist: „Der öffentlich aggregierte Gesamtwille ergibt sich aus der Aggregation der Individualmeinungen. Qualitätskriterien zur Beurteilung der öffentlichen Äußerungen werden abgelehnt, weil sie eine Instanz der Beurteilung voraussetzen, die jenseits der Individuen liegt“32.
5 Die Akteure des sog. politischen Zentrums und der großen Interessenverbände werden systematisch diskriminiert, weil ihnen die den Sprechern der autochthonen Zivilgesellschaft zugeschriebenen Qualitäten wie Spontaneität, Kreativität, Diskursivität, Freisein von Ideologie und speziellen Organisationsinteressen abgesprochen werden. Es wird ohne Begründung von einem hohen Rationalitätsniveau der „autochthonen“ gegenüber den „vermachteten“ Öffentlichkeiten ausgegangen, obwohl die Praxis häufig das Gegenteil zeigt.
6 Politik kann in der sozialen Wirklichkeit nicht vor allem aus Deliberation und aufgeklärtem Diskurs bestehen, sondern auch aus Expressivität und symbolischer Aggression in Form von Verlautbarung und Propaganda. Das Publikum gelangt nicht nur über diskursive Kommunikation zu reflektierten Meinungen, sondern auch über die Transparenz der Vielfalt vorgetragener Meinungen, auf welchen Überzeugungsmitteln sie auch im Einzelnen beruhen.
Trotz der Ablehnung der in Teilen der Öffentlichkeitssoziologie aufgestellten rigiden Forderungen an politische Kommunikationen