Sternengeflüster. Mara Janisch
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Wir verabschieden uns höflich und Umberto verlässt ein wenig fluchtartig mit mir die Meierei.
Hymnus an das Ohr
Vielgepriesen und verherrlicht wurdest du nie. Obgleich DU die Krönung des Menschen bist. Nicht so das Auge. Du Ohr bist still, hast keinen stechenden Blick, bist leise und hörst alles. Du lauschst in die Welt hinaus und bist für die wohligsten Klänge geschaffen. Tief ragst du in den Menschen hinein. Auf gewundenen, verschlungenen Wegen entfaltest du das Wunderwerk des Hörens. Doch verloren haben wir die Ohren, sie sind voll mit Geschwätz, Lärm und Missklang.
Ich höre nicht mehr auf dich, sagt der Nachbar, weil ich dich nicht mehr hören kann. Das Horchen habe ich verloren, das Gehorchen nicht. Liebes Ohr, Ohrenschmaus bekommst du keinen, aber bitte öffne dich wieder, sonst sind wir verloren, ohne Ohren!
Bereite dich vor, gib uns zurück, was wir verloren. Hilf uns, den Weg zu dir wieder zu finden. Du liebes Ohr, verschlossen sind deine Pforten, stumpf und grob bist du geworden.
Arme Menschheit, auf was hörst du, wem gehörst du?
Und du Auge, du bist jetzt der König der Welt?
Im Auge prangt Stärke
es tötet mit Blicken
ohne sich zu verstricken
setzt Urteil und Werte
gemächlich in Liebe
zuvorderst nur Triebe
Getriebe, Getriebe, Getriebe
und wo bleibt die Liebe?
Du Auge, stich alles weg, was dir nicht gefällt, wenngleich du die Schönheit noch erschauen kannst. Verloren hast du ihn nicht, den Blick für die Schönheit.
Und du Ohr, du bekommst die Schönheit nicht mehr zu hören, weil du im Handy verglühst, der Kunst entrissen wirst, in Torheit verloren bist, ent-eignet, ent-geistet bist.
Verblendetes Auge sucht Ohr mit Schallschutz zur gemeinsamen Genesung! Vielleicht können wir wieder zusammenarbeiten unter deiner Führung geliebtes Ohr!
Geliebtes Ohr, singe uns wieder von den Schönheiten des Lebens. Lausche – du wirst sie hören. Du wirst das erste sein, das sie hört. Wann kehrst du wieder ohrenvolle Zeit? Wer gibt uns das Ohr zurück?
Verloren sind die Ohren du Tor!
Musentempel
Es ist kurz nach Mitternacht. Ich husche ins Haustor meines ehemaligen Wohnhauses in der Helftorgasse in die Dunkelheit hinein und ich schleiche Stufe um Stufe das Stiegenhaus hinauf. Zum Glück muss ich nur das Hochparterre erreichen. Was sagst du, wenn du jemanden triffst?
„Ah, so ein Zufall, guten Morgen!“, scherze ich mit mir selbst. Dann beruhige ich mich schnell.
„Dich erkennt niemand, heute hast du dich ja verkleidet mit einer blonden Perücke mit schulterlangen Haaren und für den Notfall hast du eine große dunkle Sonnenbrille mitgenommen. Außerdem, das Haus hat vier Stockwerke mit einem Lift, der in den Keller zum Garagenausgang führt, den von innen jeder öffnen kann. Wenn du jemanden triffst, gehst du unauffällig bis zum Lift und fährst in den Keller und verschwindest durch den Garagenausgang. So einfach ist es!“, sage ich mir immer wieder.
Mit dieser Beruhigung erreiche ich die Wohnungstüre, ich sperre vorsichtig auf und schon bin ich in Sicherheit. Kaum fällt die Türe ins Schloss, so höre ich – es ist kaum zu glauben – Singen in der Wohnung. Das gibt es doch nicht! Vielleicht kommt es von nebenan? Ich lege mein Ohr an die Wand – nein, es kommt aus meiner Wohnung. Umso näher ich mich zum Musikzimmer taste, umso stärker wird der Klang. Jetzt ist es eindeutig! - Das Singen kommt aus dem Musikzimmer. Es ist eigenartig, wenn man nichts sieht und nur hört; das sind ja mindestens zehn Stimmen, die ich höre!
„Bitte, hört auf zu singen, man hört das doch im ganzen Haus, ihr verratet mich, dass ich hier bin!“, empöre ich mich.
„Wer seid ihr eigentlich, was macht ihr hier?“, bringe ich hervor.
„Ich kann euch nicht einmal sehen.“
„Das ist nicht wichtig, dass du uns siehst, hören sollst du uns. Du brauchst keine Angst zu haben, nur du kannst uns hören!“, beschwichtigen die Stimmen und stimmen einen mantrischen Gesang an. Er kommt mir bekannt vor, ein wunderschöner Gesang ist es. Jetzt erinnere ich mich, ich habe das Lied mit meinen Schülern im Singkreis oft gesungen.
„Lied für die Erde“ heißt es. Der Text des Liedes stammt aus Afrika, eine Übersetzung konnte ich nicht finden.
„Aye kerunene keranio keruna. Keranio weya heya heya ye aye keruna“, fällt mir der Text ein, schade, dass ich die Worte nicht verstehe.
„Hören sollst du uns, den Text musst du nicht verstehen“, tönt es wieder.
„Wieso wisst ihr, was ich denke?“, frage ich.
Es kommt keine Antwort. Sie beginnen die zweite Strophe mit demselben Text zu singen. Ich höre Frauenstimmen in verschiedenen Stimmlagen. Das Ganze klingt wie in Samt gehüllt.
Hingegeben an den Gesang lausche ich. Lange habe ich das schon nicht gemacht: nur Hören, was an mein Ohr dringt. Mit uneingeschränkter Hingabe, ohne festzustellen, ist das noch eine Quart oder Quint. Unschuldiges Hören, Horchen. Der Klang ist einheitlich, klar und rein. Er führt in eine Welt, die mir vertraut und doch nicht bekannt ist. Seligkeit könnte ich es nennen.
Seeligkeit, ein seelenvoller, gemütsvoller Gesang, eine Nahrung besonderer Art. Wohin führen und tragen mich diese Töne – sind es noch menschliche Stimmen? Ich kann den Eindruck nicht benennen. Jetzt haben sie aufgehört zu singen, der Klang schwingt nach und zaubert eine besondere Stille hervor. Ich höre und ruhe in mir, Frieden erfüllt mich.
Nach einiger Zeit frage ich:
„Wodurch ist es möglich, so schön zu singen, was war das, wie geht das?“ Ich warte.
Unvermittelt höre ich
„Wir müssen keine Leistung erbringen, wir werden nicht bezahlt für unser Singen. Nicht aus Ehrgeiz singen wir, wir wollen auch nicht berühmt werden, noch wollen wir gefallen. Wir singen aus reiner Freude und Absichtslosigkeit – aus Hingabe, aus Liebe singen wir. Wir dürfen auch falsch singen und deshalb singen wir nicht falsch.“
Plötzlich erinnere ich mich an „Fehler machen ist eine Schande“. In diesem Moment durchzuckt etwas den Raum wie ein Blitz. Es geht so schnell, dass ich gleich wieder im Dunkeln sitze. Was war das? Habe ich geträumt? Ich habe in diesen paar Sekunden Frauen im Kreis stehen gesehen, alle in weiß gekleidet, alle hatten sehr langes braunes Haar.