Familien-Biografik. Rainer Adamaszek

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Familien-Biografik - Rainer Adamaszek

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ein halbes Jahr alt war, zur Therapiesitzung. Das Gespräch kam auf den Vater des Kindes. Sobald sie sich über diesen Mann beklagte, fing es an zu schreien. Das wiederholte sich mehrmals. Ich wies die Patientin darauf hin. Anfangs glaubte sie mir nicht, sondern hielt den zeitlichen Zusammenhang für „zufällig“. Schließlich akzeptierte sie die Übereinstimmung unter großer Überraschung und war auch bereit, meine Deutung anzunehmen. Ich sagte ihr, das Kind ergreife in diesem Raum Partei für den Vater und tue, was er hier nicht tun könne, weil er abwesend sei: Es äußere Protest gegen dessen Abwertung.

      Eine andere Patientin kam mit ihrem Sohn im Alter von anderthalb Jahren. Auch in ihrer Ehe gab es Spannungen, und sie erwog die Trennung. Als sie darauf zu sprechen kam, erhob sich das Kind, das zunächst friedlich am Boden gespielt hatte, ging zur Tür des Therapieraums und versuchte, sie zu öffnen und das Zimmer zu verlassen. Ich teilte ihr meine Beobachtung mit und erläuterte sie mit der Bemerkung, anscheinend drücke das Kind auf seine Weise aus: „Bevor der Vater gehen muss, gehe lieber ich.“ Die Patientin war zwar erschrocken, wehrte sich aber nicht gegen diese Deutung, die ihr einleuchtete.

      Eine weitere Patientin war mit ihrem ersten Sohn, der schon fast drei Jahre zählte, zur Therapie gekommen. Ich kannte ihn gut und hatte in früheren Sitzungen sein Vertrauen gewonnen. Da ich während der Arbeit, die den Problemen der Mutter galt, zuweilen mit ihm Ball gespielt hatte, kam er sonst gern mit und zeigte sich immer sehr geduldig, wenn sie ihn nicht anderweitig unterbringen konnte. Diesmal war die Situation zum ersten Mal anders. Er quengelte von Anfang an und ließ seiner Mutter keine Ruhe, sondern wiederholte immer von neuem den Wunsch, zum Auto zu gehen und nach Hause zu fahren. Erst nach gut einer halben Stunde änderte sich sein Verhalten von einem Augenblick zum anderen. Zu diesem Zeitpunkt hatte sich die Patientin entschlossen, ein Problem anzusprechen, das ihr schon lange quälend auf der Seele lag und das sie bislang ausgespart hatte. Kaum war das Problem ausgesprochen, wurde das Kind so friedlich wie gewohnt. Meine Deutung, dass er die Angst der Patientin vor der Eröffnung ausgedrückt habe, fand die Patientin plausibel.

      Die nächste Szene will ich ausführlicher schildern: Ein Paar kam wegen erheblicher psychischer Probleme des Mannes zur zweiten Sitzung. Der Anlass einer kürzlichen Eskalation des Konflikts ihrer Partnerschaft war zuvor noch nicht angesprochen worden. Das Paar hatte die beiden Kinder im Alter von sechs und acht Jahren mitgebracht. Als die Sitzung beginnen sollte, erklärten die Eltern den Kindern, dass sie weiter im Wartezimmer spielen sollten, aber doch jederzeit nachkommen könnten. Im Sitzungsraum äußerte ich die Vermutung, dass sie die Kinder beruhigen wollten für den Fall, dass diese angesichts der neuen Umgebung im Wartezimmer Angst bekämen, was sie bestätigten. Daraufhin eröffnete ich ihnen, dass nach all meiner Erfahrung nicht die Angst der Kinder der Grund sein werde, wenn sie kämen, sondern die Angst der Eltern: Die Kinder kommen immer, sobald es Anlass gibt, die Eltern zu schützen. Das Paar nahm meine Bemerkung als Scherz auf, und beide reklamierten einhellig, dass das Wartezimmer ja außer Hörweite liege. Im weiteren Verlauf geschah aber etwas, was sie eines Besseren belehrte:

      Ungefähr zwanzig Minuten nach Beginn der Sitzung gab sich der Ehemann plötzlich einen sichtlichen Ruck und kündigte an, er werde jetzt endlich sein Schweigen brechen und über die jüngsten Ereignisse in seiner Ehe reden. Bevor er jedoch beginnen konnte, kamen die Kinder in den Therapieraum und wandten sich ihrer Mutter zu. Ich schaute den Mann an, und er schaute verblüfft zurück. Nachdem die Kinder das Zimmer verlassen hatten, berichtete er, dass seine Frau ihn mit einem gemeinsamen Freund betrogen habe. Die Tochter hatte unmittelbar zuvor eine in Symbole gekleidete Anspielung darauf gemacht. Im weiteren Gespräch wurde immer deutlicher, dass der Mann Augen und Ohren verschlossen hatte gegen die Vorboten des Ehebruchs, ja dass er selbst ein Arrangement getroffen hatte, das wie eine geheime Erlaubnis erschien. Er wehrte sich heftig gegen dies Eingeständnis und war einem empörten Ausbruch nahe, der zum Abbruch der Sitzung hätte führen können, als die Kinder erneut erschienen und sich jetzt ihm zuwandten. Diesmal waren beide Eheleute darin einig, dass es sich weder um blinden Zufall noch um eine im Wartezimmer selbst ausgelöste Angst der Kinder handeln konnte. Tatsächlich waren sie ja beide Male gekommen, als es Anlass zur Sorge um die Eltern gegeben hatte. Danach erschienen die Kinder übrigens nicht mehr, sondern zeigten sich sehr ruhig und waren gewissenhaft darum bemüht, das Wartezimmer in einwandfreiem Zustand zu hinterlassen. So etwas geschieht erfahrungsgemäß nur dann, wenn Kinder mit dem Verlauf einer Sitzung zufrieden sind. Es ist ihre Art, einem Therapeuten ein Kompliment zu machen.

      Auch diese Schilderung gibt nur eine von ungezählten anderen Erfahrungen wieder, die jeder Therapeut machen kann, wenn er Eltern und Kinder gemeinsam sieht, und die allesamt den Gedanken nahelegen, dass Kinder sich ganz ähnlich verhalten wie Haustiere: Sie bemühen sich nach Kräften, ihren Eltern zu helfen und etwas Bedeutsames für diese zu tun. Es scheint, als wollten sie im Dienst der Eltern nichts anderes als gut sein und als nähmen sie dabei keine Rücksicht auf ihr eigenes Wohl. Wenn zum Beispiel ein Vater sich mit starken Schuldgefühlen trägt, weil er seinen eigenen Vater verletzt und im Stich gelassen hat, dann erweist sich sein halbwüchsiger erster Sohn als ein Ausbund an Frechheit und als schamloser Provokateur. Schaut man sich die Situation des Mannes an, der als letzter von sechs Söhnen den eigenen Vater verlassen hat, um ins Ausland zu gehen, dann scheint sogar hier eine verborgene „Güte“ im Verhalten des Sohnes auf: Was dieser tut, geschieht vielleicht, um seinem Vater zu geben, was dieser im tiefsten Innern von seinem Vater erwartet, aber nicht bekommen kann. Das wäre ein fünftes Beispiel, das ich aber nicht erlebt, sondern nur einem betroffenen Klienten gegenüber gedeutet habe - mit dem Erfolg, dass dieser Mann eine von seinem Sohn erzeugte unerträgliche häusliche Situation rasch zur Zufriedenheit aller Beteiligten ändern konnte, ohne dafür mehr und anderes zu tun, als liebevoll an seinen eigenen Vater zu denken.

      Insbesondere das letzte Beispiel legt einen weiteren Gedanken nahe, der aber für die anderen ebenfalls zutreffend ist: dass Kinder im Dienst ihrer Eltern spontan die Stellvertretung Dritter übernehmen und dass sie Prioritäten setzen, die mit Eigennutz nichts zu tun haben. Der Junge, dessen Frechheit ich seinem Vater als paradoxen Ausdruck von Fürsorge gedeutet hatte und von dem sein Vater in der darauf folgenden Sitzung berichtete, dass er ohne jeden erkennbaren Übergang „wie ausgetauscht“ und ein Muster an Bravheit geworden sei, dieser Junge hatte ja sein gutes Verhältnis zum Vater geopfert, um sich an dessen Schuldgefühlen zu orientieren: Der Enkel hatte mit seiner zur Schau gestellten Bosheit und Unverschämtheit das verborgene Gefühl des Vaters, nicht in Ordnung zu sein und vor dem Großvater nicht bestehen zu können, in einer Weise auf sich genommen - nicht nur, als wäre er anstelle des Großvaters für dies Gefühl verantwortlich, sondern vor allem auch, als wäre er anstelle des Vaters daran schuld.

      Unter diesem Gesichtspunkt betrachtet, wird die obige Szenerie zum Ausgangspunkt eines dritten Gedankens, der ein wenig tiefer einsteigt und eine gründlichere Prüfung fordert: dass sich im Verhältnis zwischen Eltern und Kindern das Problem der Verantwortlichkeit auf eine Weise konzentriert, die man vielleicht als Umkehrung, Verwechslung und Infragestellung der Vergangenheit durch die Gegenwart und als paradoxe Hierarchie zu begreifen lernen kann. Daraus würde auch verständlich, was in den Szenen zuvor unmittelbar als kindliche Fürsorge ins Auge gefallen ist.

      Im folgenden werde ich zunächst einige Beispiele aus meiner therapeutischen Praxis anführen, anhand derer noch deutlicher wird, was ich meine, und die gewissermaßen darauf drängen, zu prüfen, ob es sich um eine verlässliche Regel handelt oder nicht doch nur um höchst unwahrscheinlich anmutende Seltsamkeiten. Ich beginne mit der biografischen Analyse der Trennungsproblematik eines Paares sowie mit der biografischen Analyse einer Depression, setze aber danach diese Art der Untersuchung mit anderen Beispielen fort.

      2.2 Eine Entdeckung und zwei biografische Skizzen

      Trennungsproblematik eines Paares

      Das erste Beispiel skizziert, wie ich selbst auf diese Zusammenhänge aufmerksam geworden bin: Anfang 1993 kam ein Paar in meine Praxis, weil die Frau das Gefühl hatte, sich vom Ehemann trennen zu müssen, aber nicht sicher genug war, um den Entschluss dazu zu fassen. Sie hatte Skrupel. Bei der Betrachtung des Genogramms (Bowen, 1976), d.h. des therapeutisch

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