Familien-Biografik. Rainer Adamaszek

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Familien-Biografik - Rainer Adamaszek

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oft nur ein kleiner Trost im Vergleich zu dem großen Unglück auf der anderen Seite der Waage. Kranke leiden an der Unerfüllbarkeit von Aufgaben, die ihnen als den Kindern ihrer Eltern unbewusst auferlegt werden. Das Wesen von Kindheit liegt überhaupt in der Kindschaft, d.h. in einer unentrinnbaren Dienstbarkeit gegenüber den trostbedürftigen Eltern, in dem Drang (oder „Trieb“), für die Eltern „gut“ zu sein, der Liebe zwischen den Eltern, der sie ihre Entstehung verdanken, gerecht werden, d.h. den Eltern ersetzen zu müssen, was diesen fehlt. Diese Grundregel aus der Beziehung des Kindes zu seinen Eltern lässt sich auch so formulieren: Ein jedes Kind muss, einer ursprünglichen Abhängigkeit folgend, den Eltern als Stellvertreter für diejenigen Personen dienen, die die Eltern verloren haben, und ausgleichen, was im Verhältnis zwischen den Eltern und diesen Vergangenen unausgeglichen geblieben ist. Dort, wo eine Ausgleichsbewegung symbolisch versucht oder real vollzogen wird, spreche ich vom leiblichen Prinzip der Komplementarität. Die schicksalhaften Ausgleichsbewegungen beschreiben indirekt, d.h. nach Art einer Negativkopie, die Vorgeschichte der Familie und umfassen vor allem den - immer unwillentlichen - Versuch eines Ausgleichs von Fehlendem über Generationen.

      7. Wenn man sich also die Familiengeschichte eines Patienten über Generationen in dieser Weise anschaut, dann sieht man, dass es in allen Familien so etwas gibt wie „unerledigte Geschäfte“ früherer Generationen und dass diese als fortgetragene Verantwortlichkeiten in den nachfolgenden Generationen unbewusst zur Geltung gebracht werden. Von den unerfüllten Aufgaben der Vergangenheit geht gleichsam ein Sog aus, der die Nachfolgenden leibhaftig, gewissermaßen mit Haut und Haaren, in den Bann zieht und ihnen eine ihnen eingeborene Schuldigkeit auferlegt. Dies Schulderbe erweist sich als ganz unabhängig von Bewusstsein und Kenntnissen der betroffenen Nachfolger. In ihr ist mit wissenschaftlicher Präzision aufzufinden, was in der christlichen Dogmatik als „Erbsünde“ oder was im Hinduismus als „Karma“ bezeichnet wird.

      8. Im Leben von Kranken ebenso wie im Leben von Gesunden lässt sich eine Regelhaftigkeit von Stellvertretertum innerhalb von Familien beobachten: Zum Beispiel steht eine erste Tochter immer für ihre beiden Großmütter und setzt ihr Leben für das ein, was die Großmütter den Eltern dieser ersten Tochter nach deren Gefühl schuldig geblieben sind. Und eine zweite Tochter steht für die verlorenen Schwestern der Eltern und für die Partnerin(nen) des Vaters, vor allem für die eigene Mutter. Sie lebt also vor allem das „ungelebte Leben“ ihrer Mutter in Bezug auf den Vater. Für einen ersten Sohn gilt sinngemäß dasselbe wie für die erste Tochter. Und einem zweiten (bzw. dritten) Sohn werden ebenso vornehmlich jene Aufgaben übertragen, die auf der Ebene der Elterngeneration unerfüllt geblieben sind. Ohne hier schon auf die Einzelheiten der empirisch prüfbaren Stellvertretungsordnung eingehen zu können, stelle ich fest: Neben einer Grundordnung des Stellvertretertums gibt es zwar präzise begründbare Sonderfälle, diese ändern an dem allgemeinen Gesetz der Stellvertretung nichts, sondern spezifizieren es nur.

      9. Die Frage „Warum gerade jetzt?“ ist die wichtigste, um das Symptomatische von leidvollen Stellvertretungen zu verstehen. Gänzlich ohne die Frage „Worum gerade hier?“ bliebe der Versuch einer Orientierung an der Ordnung der Zeit aber noch vergeblich. Die Ergänzung durch die Frage nach dem Ort ist eine doppelte. Erstens: Warum tritt die Erkrankung gerade an diesem Kranken in Erscheinung? Und zweitens: Warum zeigt sie sich gerade an diesen Organen dieses Kranken? Damit wird sowohl auf die Position des Kranken unter den Geschwistern als auch auf sein spezifisches Verhältnis zu den Eltern verwiesen. Und damit wird die Frage „Warum gerade so?“ schließlich darauf ausgerichtet, im krankhaften Leibgeschehens die Symbolik eines spezifischen Scheiterns als Komplementarität zu erfassen.

      10. Die biografisch-phänomenologisch ausgerichtete Therapie ermöglicht das Verständnis unseres leiblichen Befindens. Sie verlangt ein eingehendes Betrachten lebenswichtiger Ereignisse in der Generationenfolge und setzt ein - die Grenzen der außerordentlichen Dienstbarkeit und Funktionalität der Kindheit überschreitendes - Verstehen leibhaftiger Verrücktheit voraus. Sie ist keine einfache Reflexion, kein Abbilden oder Spiegeln, das auf bloßer Rückwendung oder Umkehrung eines Strahlengangs beruhte. Vielmehr ist sie, um in der Metapher zu bleiben, ein Brechen der Strahlen des (als bloßes Aufscheinen gegebenen) Phänomens, ein Aufspalten, um die Weise des Erscheinens in der Tiefe zu differenzieren. Die Brechung lässt das Einfache als Vielfalt, etwa von Spektralfarben, erscheinen, die den Ansatz zu neuem Ordnen bietet.

      11. Praktischer ausgedrückt: Eine jede Lebensäußerung und eine jede leibliche Befindlichkeit hat an sich immer schon Bedeutung (bzw. ist bedeutsam), und zwar insofern, als die Befindlichkeit unseres Leibes auf unsere Stellvertreterfunktion im leibhaftigen Dienst an den Eltern zurückgeht und Bezug nimmt auf das, was im Leben unserer Vorfahren verfehlt worden ist. Die Kontinuität, die zwischen den Generationen und Geschlechtern durch das Band der zeitlichen Relationalität erzeugt wird und die in der Komplementarität der Funktionen und Verantwortlichkeiten wirksam wird, ist (unter günstigen Bedingungen erst an der Schwelle des Erwachsenwerdens, aber unter ungünstigen Bedingungen auch schon im Kindesalter) pathogen insofern, als sie Unmögliches um den Preis der leiblichen Gebrechlichkeit erzwingt. Die Bedeutung jeglicher Erkrankung liegt in der Verwirklichung des Unmöglichen (V. v. Weizsäcker 1967, 249 ff), das sich in der Erkrankung zeigt: Das Symptom zeigt die Gebrechlichkeit unseres Leibes als Grenze unserer Macht an, indem es offen die Unmöglichkeit unseres leibhaftigen Strebens ausdrückt und zum heimlichen Symbol vergangener „Schuld“ und zukünftiger Schuldigkeit wird.

      12. Was in Krankengeschichten als Ausgleichsbewegungen vergangener „Schuld“ symptomatisch in Erscheinung tritt, ist als unbewusstes Bemühen um die nachträgliche Lösung ererbter Aufgaben immer frustran und damit virtueller Natur. Aus diesem Grund sind solche Lösungsversuche ebenso maßlos wie aussichts- und besinnungslos. Sie folgen einem inneren Drang der szenisch Beteiligten, auch wenn - oder: gerade weil - sie lediglich Ausdruck von deren Miss-Verständnissen sind: Es wird nicht verstanden, wer oder was es sei, den oder das man da aneinander missen muss. Und so sucht man dann auch das Verständnis vergeblich. Die daraus resultierenden Symptome treten als blindlings vollzogene Äußerungen der die Generationen- und Geschlechtergrenzen überschreitenden Dynamik in Erscheinung, wenn in einer Familie die Toten aus dem Blick geraten sind, wenn die Augen der Lebenden für die Welt der Toten trüb geworden, wenn sie nicht von Licht der Geistigkeit erfüllt werden und wenn sich daraufhin das Verhältnis dieser Lebenden zu ihren Toten ganz aus ihrer unmittelbar leiblichen Dienstbarkeit heraus gestaltet - gewissermaßen als unbewusster Götzendienst. Durch die dargestellte, auf die geheime Komplementarität und Relationalität der Leiber eingehende Form der Untersuchung wird die wirkliche, nämlich leibliche Genese, d.h. der körperlich-seelische Erbgang der „aetia“ (der „Ursache“ und der „Schuld“), erkennbar, auf dem sich einem Kranken die Erkrankung überträgt.

       Teil II

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