Familien-Biografik. Rainer Adamaszek

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Familien-Biografik - Rainer Adamaszek

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Fülle des Leidens leiten sich Gewicht, Richtung und Ziel einer durch Übertragung wirksamen Bedeutung ab; Bedeutung tritt überhaupt nur in Gestalt des Fortwirkens von Leiden in Erscheinung . Bedeutung als das Aufscheinen eines Gesetzes zu erkennen, in der sich eine richtende „Kraft“ zur Geltung bringt, kommt darum einer Würdigung des vergangenen Leidens gleich. Aber diese Würdigung ist nur demjenigen möglich, der von der Nachwirkung und Fernwirkung des Leidens in Mitleidenschaft gezogen wird und der darin stattfindende Verurteilung standhält. Die Erfahrung, von vergangenem Leiden ereilt zu werden und in dessen Bann zu stehen, die Erfahrung, für bloße Ohnmacht gegenüber dem Unmöglichen verurteilt zu sein, ist der einzige Weg, um Bedeutung verstehen zu lernen. Und Verständigung zwischen Menschen beinhaltet die gegenseitige Bereitschaft, die Konsequenzen der Übermittlung vergangenen Leidens zu tragen. Deutung genügt nicht zum Verstehen und zur Verständigung. Im Unterschied zum Verstehen ist die Deutung nur die gesehene, nicht die erlebte Bedeutung. Denn Deutung ist bloßer Fingerzeig für den Anderen. Die nackte Deutung eines Symptoms wirkt als Appell, der Kranke möge das ihm übertragene Leid allein tragen. Wer aber versteht, ist gleichsam in der Position eines Wundarztes, der sich kraft seiner Einsicht in die tieferen Ursachen einer schweren Verletzung für Frieden einsetzt.

      Bedeutung wird also verständlich als eine wandelbare Erscheinungsform jener richtenden „Kraft“, die sich durch die spezifischen Wirkungen des Leidens zu erkennen gibt. Bildhaft gesprochen: Bedeutung ist für die Erkenntnis wie der unsichtbare Inhalt, der sich im körperlichen Geschehen verbirgt und offenbart. Das Körperliche ist dessen Form: Die Wunde ist die Form des Schmerzes. Und der Schmerz gleicht dem Wein, der in unterschiedlichen Fässern und Schläuchen enthalten sein, transportiert werden und reifen oder versauern kann. Wenn also in Bezug auf Übertragung und Verwandlung von Bedeutungen Erkenntnis entstehen soll, wenn das Feld der Bedeutungen überhaupt als Wissensgebiet gefasst werden darf, dann muss es gelingen, die Gesetzmäßigkeiten der Formwandlungen angemessen zu beschreiben, die bei Umfüllung, Lagerung und Genuß eines zumindest begrifflich identifizierbaren Gehaltes stattfinden. Diese Beschreibung aus Erfahrung zu leisten, wäre Voraussetzung, um die besondere „Dynamik“, die besondere Art von „Kraft“ zu begreifen, welche in den Ereignissen des Lebens als Bedeutung wirkt.

      Meines Erachtens lässt sich sehr einfach benennen, was im Leid Geltung erlangt: Es ist die versäumte Trauer, die noch nicht getrauerte Trauer. Sie ist es, die als Widerstand für das freie Fließen der Liebe zwischen den Generationen und zwischen den Geschlechtern in Erscheinung tritt. Mit dem abstrakten Wort „Kraft“ kann man den Grund dieser hintergründigen Art des Wirkens nur belegen, solange weder die aufgestaute, in einen Stausee verwandelte Liebe zum Vorschein gekommen noch das Hindernis der Liebe entdeckt ist. Und solange ihr Geheimnis im konkreten Fall nicht gelüftet ist, bietet sich für jene richtende „Kraft“, deren Wirkung so sehr derjenigen der Gravitation gleicht, auch der Name „semantisches Feld“ an. Was unter diesem Namen zusammengefasst werden könnte, zeigt sich also anhand der Vielfalt und der Wandlungsfähigkeit aller Krankheiten, Syndrome und Symptomatiken. Der Zusammenhang alles Krankhaften mit allem Gesunden wiederum findet sich im Bild des Lebensstroms. Das Symbol des Stroms aber bietet sowohl Analogien zur Physiologie des Oxidationsprozesses, der die Lebensvorgänge aufrecht erhält, als auch zur Physik der Energieumwandlungen, die auf Entropiezunahme und Wärmetod des Universums hinauslaufen.

      Der Name „Feld“ scheint zwar eine in der modernen Physik geläufige Terminologie aufzugreifen, wie sie etwa der „Eichfeldtheorie“ oder der „Super-String-Theorie“ zugrunde liegt. Aber es bleibt sehr fraglich, ob eine solche Analogie für die zu gewinnende neue Begrifflichkeit überhaupt angebracht sein kann. Denn eines scheint von vornherein klar: Die Physik hat zwar infolge der Quantenmechanik auf die Newtonsche Eindeutigkeit und Vorhersagbarkeit mechanischer Kausalverknüpfungen verzichten müssen, darum aber noch nicht überhaupt die Vorstellung unmittelbarer Verknüpfungen zwischen physischen Ereignissen aufgegeben. Den Charakter physikalisch definierter Kausalität im der modernen Physik weiterhin geläufigen Sinne kann einem „semantischen Feld“ schon darum nicht zuerkannt werden, weil die zeitlichen und räumlichen Bedingungen für die Wirkungen hier gänzlich andere sind: Weder gilt für jenes „semantische Feld“ des menschlichen Umgangs, das ich meine, das Prinzip der unmittelbaren zeitlichen Folge erkennbarer Wirkungen, noch gilt das Prinzip der unmittelbaren örtlichen Nähe dieser Wirkungen. Und schließlich gilt für das „semantische Feld“ im Gegensatz zur physikalischen Energie das Prinzip, dass das Fehlende, nicht aber das Vorhandene wirkt. Falls es hierzu in der modernen Physik eine Analogie geben sollte, dann wäre diese sicher nicht im geläufigen Begriff des Vakuums - entsprechend dem „horror vacui“ der Alchemisten -, allenfalls im hypothetischen Higgs-Feld zu suchen. (Genz 1999, 29)

      Wenn man einmal von den neuesten und komplizierteren Entwicklungen innerhalb von Physiologie und Physik absieht und sich erlaubt, einfach die drei unterschiedlichen Wirkungen zu betrachten, die von der Art der Bedürftigkeit der Eltern auf die Art und Weise ausgeht, in der ein Kind seine Eltern zu lieben vermag, dann wird der unermeßliche Unterschied zwischen dem ernsthaft-physikalischen Feldbegriff und dem spielerisch-biografischen Namen „semantischen Feld“ deutlich: Plötzlich eröffnet sich der Blick auf den Zauber der Liebe, die sich über die Beschränkungen der Physik hinwegsetzt, ohne indessen völlig gesetzlos zu wirken:

      1. Nur das „semantische Feld“ erster Ordnung, in dem zum Beispiel das Kind dem Blick seiner Mutter ausgesetzt ist, wirkt zwischen Eltern und Kind synchron in der Nähe , also zeitgleich an demselben Ort. Seine Wirkung ist die direkte, quasi kausale Gestaltung einer gegebenen Hierarchie der Bedürftigkeiten.

      2. Das „semantische Feld“ zweiter Ordnung aber, von dem soeben im Zusammenhang mit den Sheldrakeschen Experimenten die Rede gewesen ist, wirkt bereits ganz anders, nämlich synchron in der Ferne (zeitgleich am anderen Ort) und ist mit kausalen Erklärungen nicht vereinbar.

      3. Das „semantische Feld“ dritter Ordnung aber, um das es nach den in meinem Text beschriebenen Erfahrungen bei symptomatischen Ereignissen eigentlich immer zu gehen scheint, wirkt rhythmisch diachron in der Ferne. Das heißt: Es wirkt sowohl später als auch anderswo, sowohl zeitlich versetzt als auch örtlich entrückt.

      In der distanzierten und distanzierenden Terminologie des „semantischen Feldes“ wäre jetzt festzustellen: Ich habe anhand der beiden obigen kurzen Fallstudien zu zeigen begonnen, dass für die diachrone (zeitlich aufgeschobene) Wirkung des „semantischen Feldes“ dritter Ordnung tatsächlich überprüfbare Gesetzmäßigkeiten gelten. Im folgenden aber werde ich darüber hinaus zeigen, dass diese Gesetzmäßigkeiten nicht nur zeitlich bestimmbare sondern noch weitere Besonderheiten aufweisen, wie sie insbesondere auch von jenen Psychoanalytikern beschrieben werden, die sich mit den mehrgenerationalen Aspekten der Traumaforschung, insbesondere mit den Folgen der Shoa befassen (Wardi, 1995; Kogan, 2000). Meine eigenen Beobachtungen dazu werden im weiteren Text nachzuliefern sein. Darin wird sich dann folgendes zeigen:

      a) Die diachrone Wirkung des „semantischen Feldes“ vollzieht sich im unmittelbaren Umgang zwischen Menschen als synchronisierte und symbolhafte Inszenierung.

      b) Sie vollzieht sich nicht nur in der Nähe eines Anderen, sondern dieser Andere ist ein Anderer, ein anderer als die Eltern nämlich; seine Nähe ist die Nähe eines - im Vergleich zu den Eltern - nächsten Anderen, eines anderen Nächsten : die Nähe eines Dritten. Das heißt: Die Wirkung des „semantischen Feldes“ dritter Ordnung findet statt als unbewusst vereinbarte wechselseitige Bedeutungszuweisung an einem gemeinsamen Ort und in einer gemeinsamen Zeitspanne.

      c) Aber diese zeitliche und räumliche Verbundenheit der an dem unbewussten, wechselseitigen Arrangement Beteiligten darf nicht darüber hinweg täuschen, dass sich die Bedeutung dieses Umgangs von anderswoher speist: Das Arrangement zielt auf szenische Darstellung eines vergangenen Mangels ab und wird verständlich als eine verspätete in Symbolik überführte Erfüllung des (im Vergangenen bzw. von Vergangenen) Unerfüllten.

      d) Das Gesetzmäßige des „semantischen Feldes“ dritter Ordnung, dem

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