Familien-Biografik. Rainer Adamaszek
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2.3 „Semantische Felder“ als „Kraftfelder“ leiblicher Bindung
Wenn wir tatsächlich annehmen dürfen, es handelte sich sowohl bei den anfangs geschilderten Kinderszenen als auch bei den zuletzt wiedergegebenen zwei Krankengeschichten um Beispiele für die Wirkung einer Gesetzmäßigkeit, dann ließe sich das zugehörige Gesetz in weiterer Annäherung versuchsweise folgendermaßen formulieren:
Sobald ein Kind ins Leben gerufen wird, bewegt es sich in der Welt zunächst als ein abgespaltenes Organ seiner Eltern. Die Dienstbarkeit des Kindes beginnt mit der Zeugung und wirkt unmittelbar gegenwärtig: Sie ist mit der Bedürftigkeit seiner Eltern synchronisiert.
Die dem Leibe eines jeden Kindes inhärente Wirkung seiner Dienstbarkeit wird zwar jederzeit erkennbar, d.h. in aller zeitlichen Gegenwart ablesbar. Dennoch ist sie - was vielleicht paradox erscheinen mag - relativ unabhängig von der räumlichen Gegenwärtigkeit der Eltern. Wo der Dienst vom Kind nicht erfüllt wird, da bleibt er nur darum unerfüllt, weil er - aus welchen Gründen auch immer - gegenwärtig unerfüllbar ist.
Jedenfalls bliebe es angesichts der wirklichen Hierarchie zwischen Eltern und Kindern unbefriedigend, sich mit der Bemerkung zu begnügen, dass im Ablauf der Beziehungen zwischen Eltern und Kind eine gegenseitige Abhängigkeit bestehe. Immerhin stammt das Kind von den Eltern, ist deren Spross. Insofern sind die Eltern primär gegenüber dem Kind. Und da das Kind auf die Eltern folgt, ergibt sich logisch: Dass das Kind der Eltern bedarf, folgt auf die Bedürftigkeit der Eltern, die sich in ihrer Liebe zueinander nach dem Kind gesehnt haben. Dazu eine kurze Bemerkung: Wenn Eltern auf die Symptomatik ihrer Kinder verzweifelt reagieren, zeigt sich am Ende, dass sie lediglich die wirkliche Hierarchie der offenbar werdenden Problematik nicht verstehen, sondern die Rangordnung der Verantwortlichkeiten verkehren. Diese Beobachtung zunächst einmal als Basis für eine weitere Hypothesenbildungen festzuhalten, bedeutet zweifellos eine radikale Abkehr vom heute vielfach üblich gewordenen Denken. Dessen bin ich mir durchaus bewusst. Aus meiner Sicht schlage ich dennoch vor, die alternative Ausgangsbasis, die insbesondere durch die Demonstrationen Bert Hellingers (1993, 1994) bereits Aufmerksamkeit erregt hat, praktisch zu prüfen. Sie ist meines Erachtens einfach besser geeignet, die - häufig komplizierten oder sogar zunächst unverständlich erscheinenden - Beziehungen zwischen Eltern und Kindern zu begreifen.
Allgemein lässt sich also, wenn man diese Wendung im Denkens über Verantwortlichkeiten einmal probeweise vollzieht, formulieren:
Die Versagenszustände und Ohnmachtgefühle eines Menschen werden vielleicht nur verständlich, wenn man sie als Ausdruck der Unerfüllbarkeit von Aufgaben im Dienst an (aus Liebe zu) den Eltern auffasst. Genau das ist mit der Feststellung gemeint, dass die Versagenszustände eines Menschen vor allem Ausdruck einer fortbestehenden Priorität von ebenso unbewussten wie unerfüllbaren Diensten gegenüber den jeweiligen Eltern seien. Im Vergleich zu den bewussten und erfüllbaren Aufgaben dieses Menschen genießen die ersteren einen auf den ersten Blick unbegreiflichen, aber in jeder Symptomatik möglicherweise sichtbar werdenden Vorrang.
Es ist klar, dass die Hierarchie der Verantwortlichkeiten, die sich auf Seiten der Eltern damit radikalisiert, zunächst nicht jedermann unbedingt einleuchtend, manchem sogar unsinnig erscheint. Die Schlussfolgerungen, die sich daraus ergeben, wären auch nicht treffsicher, solange man sich bei der Betrachtung symptomatisch gewordener Beziehungen allein im Gegenwärtigen aufhält. Hier liegt dann auch das ganze Problem des Umdenkens begründet: Dass man jenes „Unsichtbare“ aus dem Sinn verliert, das, wie der „Kleine Prinz“ von Antoine de Saint-Exupéry betont, das Wesentliche ist. Wenn ich die obige allgemeine Hypothese durch eine weitere ergänze, so avanciert diese weitere damit freilich zum Herzstück dieser ganzen Auffassung:
Was für ein Kind gegenüber seinen Eltern einmal unerfüllbar gewesen ist, das prägt sich ihm als verbleibende Schuldigkeit ein. Eine nicht erfüllte Verpflichtung, die sich aus der Bedürftigkeit seiner Eltern ergibt, wird von dem Kind nicht nur unter den jeweiligen Umständen, die eine Erfüllung aktuell unmöglich machen, als seine eigene „Schuld“ genommen, und sie wird nicht nur synchron an einem fremden Ort, dem die Eltern fernbleiben, mit den Gefühlen der Machtlosigkeit empfunden, sondern darüber hinaus zu einem späteren Zeitpunkt mit Ohnmachtgefühlen bezeugt, wenn das Bedürfnis der Eltern gar nicht aktuell fortbesteht und diese sich längst anderweitig haben behelfen müssen, ohne auf Abhilfe durch das Kind rechnen zu können. Das ist besonders tiefgreifend, nämlich und endgültig der Fall, sobald die Eltern nicht mehr leben.
In dieser Form werden meine Behauptung über die Gesetzmäßigkeit, Entschüsselbarkeit und Wandelbarkeit von Schicksalsbindungen überhaupt erst für Überprüfungen zugänglich. Und tatsächlich findet sich bei gezielten Untersuchungen eine merkwürdige Rhythmik des Lebenslaufs, in der die Themen ehemaliger Schuldigkeit wiederkehren (Schützenberger, 1993) und nach irgendeiner Lösung verlangen, gleichsam damit „die liebe Seele Ruh`“ haben möge. Ich sehe mich aber aufgrund meiner Erfahrungen mit Kranken veranlasst, noch weiter zu gehen und zu behaupten:
In den Beziehungen zwischen den Menschen geht von dieser Rhythmik der frustranen kindlichen Dienstbarkeit die Kraft der spontanen Gebundenheiten aus. Die Kraft der Gebundenheiten wirkt bei einem Kinde so innig, dass sie sich über den realen Unterschied hinwegsetzt, der zwischen den Eltern und den jeweils anderen Anwesenden besteht. Vielmehr setzt sich die Dynamik des Stellvertretertums, die bereits das Verhältnis zwischen Eltern und Kindern beherrscht, in den Beziehungen zu Dritten fort. Die jeweilige Veranlassung zur Dienstbarkeit wird gesetzmäßig geschaffen und erlitten. Und das unentrinnbare Gesetz dieser Dienstbarkeit führt die Kinder dazu, dass sie - als spontan Unterworfene - die Qualität ihrer Gebundenheiten in Abhängigkeit von zeitlich näher zu bestimmenden Relationen auf (an-)geeignete weitere Personen übertragen und mit deren Hilfe - symptomatisch oder asymptomatisch - gleichnishaft zur Darstellung bringen.
Anders gesagt: Die Unsterblichkeit jener Sehnsüchte, die im Verhältnis zwischen Eltern und Kindern unerfüllt bleiben, prägt den Lebensläufen der Menschen die wechselseitigen Zeitgestaltungen und die Bedeutungen ein und macht eine grundlegende biografische Gesetzmäßigkeit aus: Aus ihr resultiert der Symbolismus der Lebensläufe. Dass einem Ereignis Bedeutung zukommt, heißt nichts anderes, als dass dies Ereignis im Leben eines Menschen funktionell auf ein anderes Ereignis im Leben anderer Menschen hin ausrichtet oder in der Art seiner Funktionalität auf das andere hinweist und insofern mit jenem anderen in einer dynamischen Beziehung steht. Aber jede dynamische Beziehung gibt sich in Resultaten eines Wirkens zu erkennen. Inwiefern also mit Bezug auf das Bedeuten von einem Wirken gesprochen werden darf, ist zunächst ja nicht klar. Falls es sich um das Zuweisen einer Richtung handelt, bleibt ja gerade unbestimmt, auf wessen Akt hin die Ausrichtung erfolgt sein sollte, da diese doch ohne sichtbaren Akteur erfolgt. Das wäre ja eine seltsame Art von „Entdeckung“, wenn es nach dem Fortziehen der Decke gar nichts zu sehen gibt. Zu sagen, dass das eine Ereignis dem anderen Ereignis Bedeutung übermittle, hieße ja, dass das ursprüngliche Ereignis aktiv gegenüber dem letzteren Ereignis sei. Aber die Art dieser Aktivität des Bedeutung gebenden Ereignisses ist zunächst so rätselhaft, dass auch beim Versuch, zu verstehen, was da stattfindet, die Art der Passivität des Bedeutung empfangenden Ereignisses von derselben Rätselhaftigkeit angekränkelt ist.
In dieser Lage tut man offenbar gut daran, sich zu erinnern, um was es bei der Zuweisung von Bedeutung geht: Das Bedeutsame im vorangegangene Ereignis ist ja das, was darin gefehlt hat. Aus dem Ausbleiben des im ursprünglichen Ereignis nicht Fehlenden oder Ausgebliebenen keimt die orientierende Kraft, von der das nachfolgende Ereignis seine Bedeutung empfängt. So klingt es zwar paradox, ist aber zutreffend, wenn gesagt wird, die Entdeckung des Ursprungs von Bedeutung macht nur derjenige, der von einem Unsichtbaren die Verhüllung entfernt. Er bekommt nur den Mangel zu Gesicht, nicht aber das, was fehlt. Eine Kriegsverletzung zeigt auf, dass der Frieden fehlt. In Anbetracht des Ausmaßes der Verwundung wird deutlich, wie heftig der Frieden vermisst worden ist.
Damit