Familien-Biografik. Rainer Adamaszek

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Familien-Biografik - Rainer Adamaszek

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durch verschiedene Stellvertreter zu sprechen. Eine derartig konkretisierte Betrachtung kommt der Wahrheit einer Erkrankung ein ganzes Stück näher. Grundsätzlich vertrete ich aber die Auffassung, dass bei der Erfassung sämtlicher wirksamer Zusammenhänge Vollständigkeit praktisch nicht zu erlangen ist, sondern eine - therapeutisch unbedingt zu respektierende - Utopie bleibt. (Vgl. Abb. 2.3)

      Mir kommt es hier nur darauf an, einen ersten Eindruck von den Gesetzen zu vermitteln, die ich unter dem Begriff Biografik, sowie der Gesetzmäßigkeiten, die ich unter dem Begriff der Leibhaftigkeit zusammenfassen möchte: Ich schaue nach dem, was in der Generationenfolge einer Familie gefehlt hat. Das ist immer eine verantwortliche Person bzw. eine Person, die Verantwortung hätte wahrnehmen müssen, um einem Kind Schutz zu geben. Es spielt für die Analyse nur am Rande eine Rolle, ob das Fehlen als Verlust oder als Verfehlung zustande gekommen, ob das Fehlende eine Handlung oder eine Unterlassung gewesen ist. Primär sind die systemischen Folgen zu bedenken, die darin bestehen, dass ein Kind das Fehlende als eigene Schuldigkeit, wie automatisch, unbewusst übernimmt und sein Lebensrecht davon abhängig macht, inwiefern es ihm gelingt, dafür zu sorgen, dass die „Schuld“ beglichen werde. Die körperlichen Folgen dieses Prozesses sind mit den emotionalen Folgen ebenso verschränkt, wie Wahrnehmen und Bewegen miteinander verschränkt sind. Das ist das wesentliche Argument, warum ich es vorziehe, vor jeglicher Einzelbeobachtung zunächst grundsätzlich von „leiblichen“ Folgen zu sprechen. Denn die Leiblichkeit ist die widersprüchliche Einheit des (im Verhältnis von Wahrnehmen und Bewegen bereits auf geheimnisvolle Weise zwiespältig erscheinenden) Körperlichen und Seelischen. (Viktor von Weizsäcker, 1950, 1988)

      Abb. 2.3: Beinbruch (1995)

      Legende: ein Schrägstrich = Trennung; zwei Schrägstriche = Scheidung

      Praktisch wirkt sich die primär unabweisbare Stellvertreterfunktion des Kindes wiederum so aus, dass das Kind unter seiner Ohnmacht leidet oder an seiner Ohnmacht andere Menschen leiden lässt. Charakteristisch ist das Aufbrechen des Schmerzes im Leben dieses Kindes, in anderen Situationen auch das Aufbrechen von Angst oder von Scham, in jedem Fall aber ein elementares (seltener auch abgeleitetes) Gefühl für jene Ohnmacht, die bei den Eltern eines Kranken durch das Fehlen bzw. durch die Verfehlung(en) von Vergangenen erfahren worden ist. Diese Folgen lassen sich aus den Symptomen und Erkrankungen eines Menschen mit einem - für den Ungeübten kaum glaublich - hohen Maß an Treffsicherheit erschließen, und zwar auch dort, wo man sie nicht, wie in dem angeführten Beispiel, schon unmittelbar voraussagen kann.

      In Bezug auf den Beinbruch lässt sich also die Frage „Warum ausgerechnet jetzt?“ sofort beantworten, wenn man sich auf die Kenntnis der Gesetze des Lebenslaufs von Nachfahren stützt, mit Blick auf das Genogramm des jungen Mannes. Die Antwort lautet aber nicht etwa: „Weil der Großvater väterlicherseits in demselben Alter gestorben ist.“ Sie lautet vielmehr: „Weil der Tod des Großvaters vom Vater bis heute nicht verschmerzt worden ist und weil dieser Tod in der weiteren Geschichte der Familie tragische Folgen nach sich gezogen hat.“

      Auch die Frage „Warum gerade hier?“ lässt sich nun leichter beantworten, als dies ohne genographische Analyse möglich wäre: „Weil der Großvater im Krieg gefallen ist und darum seinen Sohn, den Vater des Patienten, nicht instand gesetzt hat, einem Sohn gegenüber Verantwortung wahrzunehmen.“ Freilich sind in Bezug auf die Frage nach Ort und Art der Erkrankung weitere Kenntnisse erforderlich, die sich sowohl auf die Stellvertretungsordnung in Familien als auch auf die Symbolik und Stellvertretungsordnung des Körpergeschehens beziehen.

      Die Erkenntnis, dass der erste und einzige Sohn unter anderem Stellvertreter jenes Großvaters ist, bildet eine erste Grundlage zur Deutung des Krankheitsgeschehens. Es gibt aber darüber hinaus, wenn ich meine Erfahrungen verallgemeinern darf, auch eine - für die Theorie der Medizin höchst interessante Stellvertretungsordnung der verschiedenen Organe innerhalb eines Leibes, auf die ich im nächsten Kapitel noch kurz eingehen werde. Dem rechten Bein eines Kindes entspricht nämlich der Standfestigkeit, die ein Kind ganz leibhaftig vom Vater erhält - wie das linke Bein die Funktion der Mutter übernimmt, wenn es gilt, selbständig durch das Leben zu gehen. Ein Mensch braucht die Fürsorge von Mutter und Vater, um seine volle Selbständigkeit ohne ungewöhnliche Einbrüche zu erlangen. Dass ein Vater zu einem bestimmten Zeitpunkt seinen Vater verloren hat, kann bei seinem Sohn zur Überlastung des rechten Beines führen, sobald dieser ein Alter erreicht, in dem er das Gewicht seines Vaters stellvertretend für den Großvater zu tragen hat. Die Dysfunktion der Stellvertretung des Kindes für die Eltern scheint sich symptomatisch in einer symbolisch zu verstehenden Störung in der Stellvertretungsfunktion der Organe zu verraten: Es ist, als würden sich die Eltern in einer universellen Sprache der Organe bei dem Kind beklagen, „weil“ dies Kind ihnen nicht dazu verhilft, ihren Schmerz zu lindern, ihre Wunden zu heilen und ihnen die Arbeit der Trauer zu ersparen.

      Der sprachlich hergestellte, etymologische Bezug zwischen der zeitlichen „Weile“ und dem begründenden „Weil“ ist offensichtlich. Die Zeitverhältnisse werden in der Umgangssprache wie selbstverständlich für den Grund eines Geschehens genommen.

      Die dritte Frage „Warum gerade so?“ ist nicht mehr allzu schwer zu beantworten, wenn man die Symbolik des Leibgeschehens und die Problematik des Stellvertretertums über den Rahmen des Familienlebens hinaus weiter verfolgt, ohne unsere leibliche Verbundenheit mit unseren Vorfahren aus den Augen zu verlieren. Dann zeigt sich: Der Bruch erfolgte beim Fußballspiel, und zwar dadurch, dass ein gegnerischer Spieler unfair nachtrat. Im damaligen Geschehen fand also ein stellvertretender und symbolischer Ausgleich insofern statt, als einerseits der Stellvertreter des Großvaters trotz des „Fallens“ am Leben geblieben ist und erfolgreiche ärztliche Hilfe erhielt, andererseits der Gegner vom Platz gestellt und einige Monate lang für jedes weitere Spiel gesperrt wurde. Das ist ein - nicht nur in Friedenszeiten - annehmbarer Ersatz für die Todesstrafe, die die Familie des Patienten dem Kriegsgegner des Großvaters als Strafe vermutlich hätte abverlangen mögen.

      Mit anderen Worten: Wir haben es bei dem Beinbruch meines Patienten mit einer Inszenierung zu tun, die zwischen zwei Menschen unbewusst vonstatten gegangen ist und die als solche nicht aufklärbar wäre, wenn die „Perspektive dritter Ordnung“, wie ich sie oben bezeichnet habe, nicht zur Verfügung stünde. Aus Erfahrungen mit anderen Personen wage ich die Behauptung, dass eine genografische Analyse des Platzverweises auf Seiten des zweiten Beteiligten ein korrespondierendes Ergebnis erbracht hätte.

      Versagensängste

      Eine weitere Krankengeschichte mag beispielhaft jene Phasen der Forschung beleuchten, in denen der Boden, den ich mit meiner Sicht der Dinge betreten hatte, zu schwanken schien und in denen ich der Auffassung zuneigte, dass ich es bei meinen biografischen Funden lediglich mit einer - freilich immer noch erklärungsbedürftig auffälligen - Häufung ähnlicher Ereignisse, nicht aber mit einem wirklichen Gesetz zu tun hätte, das keine Ausnahmen duldet:

      Ein 35-jähriger Patient kam zur Therapie, weil er sich isoliert und nutzlos fühlte, nachdem er gerade erst erneut seinen Arbeitsplatz verloren hatte. Er leide unter „Kommunikationsproblemen“, und es sei ihm aufgefallen, dass er in seinem Leben niemals das gemacht habe, was er selbst wollte, sondern sich in unangenehme Rollen, lästige Aufgaben und berufliche Fehlentscheidungen habe hineinzwängen lassen, aus denen er nur entweder krankheitsbedingt oder mit tiefer Empörung ausgestiegen sei. (Vgl. Abb. 2.4)

      Abb. 2.4: Versagensängste (1984)

      Aus seinem Familienstammbaum ging hervor, dass der Großvater väterlicherseits starb, als der Vater 22 Jahre alt war. Auf meine Frage, was sich in seinem Leben Besonderes ereignet habe, als er selbst 22 Jahre alt war, fiel ihm auch bei verstärktem Nachdenken nichts ein:

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