Familien-Biografik. Rainer Adamaszek

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Familien-Biografik - Rainer Adamaszek

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Verantwortung des Erwachsenen in aller Schärfe heraus arbeiten, um die Aufgaben von uns Erwachsenen und die Aufgaben einer humanen Medizin zu verdeutlichen.

      Meine Untersuchungen betreffen Familienbiografien nicht nur Kranke, sondern auch Gesunde Personen, unter den Kranken allerdings sowohl körperlich als auch seelisch Beeinträchtigte. Anfangs ist es für mich eine große Erschütterung gewesen, feststellen zu müssen, dass die auf den ersten Blick so grundsätzlich erscheinende Trennung zwischen körperlichen und seelischen Erkrankungen aus biografischer Sicht von untergeordneter Bedeutung ist. Die Problematiken waren sämtlich in ähnlicher Weise aufzuklären, auch wenn hier bereits Unterschiede zu erkennen sind, auf die ich aber an dieser Stelle nicht eingehen möchte. Dass sich bei der Behandlung gravierende Unterschiede ergeben, ist nicht erwähnenswert.

      Aus diesen Erfahrungen ergeben sich allgemeingültige Einsichten in die Gesetzmäßigkeit der Bindungen zwischen Eltern und Kindern. Da es sich dabei um lehrbares Wissen handelt und da sich dies Wissen auf die Gesetzmäßigkeiten von Lebensläufen bezieht, da es also ein Wissen um Lebensgesetze ist, erscheint es angebracht, dafür einen eigenen Begriff zu entwickeln. Ich sehe mich hier in Einklang mit Ideen Viktor von Weizsäckers, der in seinem „Entwurf einer speziellen Krankheitslehre“ mit programmatischer Absicht den Begriff „Biografik“ prägte (1967, 241 ff). Da die Methode, mit deren Hilfe sich die biografischen Gesetze erkennen lassen, phänomenologisch ist, ziehe ich es vor, von „phänomenologischer Biografik“ zu sprechen. Diese ist mir nicht nur aus therapeutischer Arbeit erwachsen, sondern ich habe auch den Eindruck, dass sie die für therapeutische Zielsetzungen einzig geeignete ist. Jedenfalls hat mein Buch den Zweck, die therapeutische Bedeutung dieser phänomenologischen Biografik darzulegen. Ich werde sie nunmehr thesenhaft formulieren:

      1. Für das Verständnis dessen, was im Leben eines Menschen an auf den ersten Blick Unverständlichem geschieht, ist nicht die Betrachtung seiner Kindheit entscheidend, sondern die Betrachtung seiner Kindschaft. Unter „Kindheit“ wird ja üblicherweise eine bestimmte, vorübergehende Lebensphase verstanden, in der ein Mensch noch nicht auf eigenen Füßen stehen kann, sondern die Voraussetzungen seiner Selbständigkeit noch erwerben muss und darum von seinen Eltern oder anderen Erwachsenen mehr oder weniger vollständig abhängig ist. Unter „Kindschaft“ aber ist die unabänderliche Tatsache zu verstehen, dass ein jeder Mensch, ob klein oder groß, das leibliche Kind seiner Eltern ist. Denn jeder Mensch entstammt der Verbindung seiner Eltern und verkörpert allein darum die Ziele der Liebe seiner Eltern. Das bedeutet: Es steht unmittelbar mit Leib und Leben ein für die Erfüllung der in der Paarbeziehung seiner Eltern leibhaftig eingegangenen Verbindlichkeiten. Das Kind hat den Eltern zu bieten, was die Eltern durch ihre Paarbindung anstreben, wozu sie einander unwissentlich benutzen bzw. durch Ehevertrag unwillentlich verpflichten. Der wesentliche Zweck des Kindes besteht darin, dass es das Leben, das die Eltern von den Großeltern erhalten haben, fortsetzt. Bei dieser Fortsetzung handelt sich aber nicht etwa um die Einlösung eines Blankoschecks auf das Leben schlechthin, sondern um die Einlösung von nicht ausgehandelten, primär wirksamen Bedingungen, die allesamt als Ausgleichsbewegungen im Dienst der Eltern bezeichnet werden können.

      2. Dem der Kindschaft eines Menschen innewohnenden leibhaftigen Debet, der unverhandelbaren Verpflichtung, die mit der Tatsache seines Entstehens aus der innigsten Verbundenheit der Eltern gegeben ist, entspricht der Hauptaspekt seiner lebenslangen Abhängigkeit. Sie macht es ihm nämlich letztlich unmöglich, sich durch Leistung aus dem Bann der elterlichen Leibeigenschaft zu befreien. Es bleibt immer ein uneinlösbarer Rest seiner kindlichen „Schuld“ - darum uneinlösbar und nicht abgeltbar, weil er in der Vergangenheit hätte erfüllt werden müssen. Das Kind kommt jedoch als Funktionsträger des seinen Eltern Entgangenen, als Stellvertreter der seinen Eltern Vergangenen immer „zu spät“, um nach den Kriterien seiner Leiblichkeit unschuldig bleiben zu können. Diese Ausgangsposition erlegt einem jeden Menschen jene lästige Befindlichkeit auf, die ihm insbesondere das Erwachsenwerden zum Risiko macht. Denn der Befreiung zur Selbständigkeit des Erwachsenseins fällt der Charakter des Ungehorsams gegenüber den Eltern, des Aufstands gegen sie zu. Dennoch ist das Erwachsenwerden ein Anspruch, der sich seinerseits aus der ebenfalls unabweisbar wirksamen - gleichsam geschwisterlichen - Bindung eines Menschen an die Bedürftigkeit seiner Mitmenschen ableitet. (Lévinas, 1992 a, 50 ff) In dem Widerspruch zwischen der tiefen Bindung durch die „Schuld“ der Vergangenen auf der einen Seite und durch die aktuelle Schuldigkeit in der Gegenwart auf der anderen Seite liegt das Problem der Entwicklung eines Menschen. (Boszormenyi-Nagy & Spark, 1983; U. Franke, 1997, 69) Wo dies Problem unlösbar erscheint, zeigt sich ein Symptom, das auf das Fehlen der Lösung ebenso hinweist, wie es die ungelöste Aufgabe selbst symbolisiert. Alle Symptomatik ist darum Erinnerung an die Verpflichtung zur Wahrnehmung des Unterschieds zwischen der illusionären vergangenen, fremden Verantwortlichkeit einerseits und der wahrhaften, aktuellen, eigenen Verantwortung andererseits.

      3. Das Leben der Nachfahren vollzieht sich also der Form und dem Inhalt nach als eine - zuweilen nur symptomatische - stellvertretende Ausgleichsbewegung in Bezug auf das ungelebte Leben der Vorfahren. Diese - nach dem Prinzip lebendiger Komplementarität - stattfindende Bewegung entspricht der einem jeden Kind angeborenen oder später übertragenen Aufgabe, seinen Eltern zu ersetzen, was diesen Eltern in ihren Leben fehlt. Es geht dabei in erster Linie um das verlorene oder gefährdete Leben anderer Familienmitglieder, in zweiter Linie um die vermisste oder erschöpfliche Verantwortlichkeit dieser Familienmitglieder. Darum sind die wesentlichen Ereignisse, an denen sich das Leben eines Kindes orientiert, zuerst die Zeugung, die Geburt und der Tod jener Personen, sodann aber auch die Zeitpunkte des Zustandekommens oder des Scheiterns der Liebesbindungen zwischen den betreffenden Männern und Frauen in der Familie.

      4. Der Leib eines Menschen fungiert wie ein Uhrwerk, das - innerhalb gewisser Grenzen - zeitgenau die unerlöste Thematik seiner Vorfahren anzeigt. Er tut dies in der Form einer Bezugnahme auf die vergangenen Relationen zwischen seinen Eltern und den Personen, in deren Stellvertretung dieser Mensch selbst den Eltern unmittelbar zu dienen hat. Die leibliche Befindlichkeit orientiert sich in genau bestimmbaren zeitlichen Rhythmen an der unerfüllten Liebe zwischen den Vorgängern des Kindes und seinen Eltern. Im Leben eines Menschen werden also die Themen der Beziehung zwischen den Eltern einerseits und den Vorfahren andererseits, deren unerfüllte Aufgaben dem Kind durch Zeugung und Geburt übertragen werden, nach dem Prinzip der Relationalität wirksam. Das heißt, sie treten - jeweils als lösbar oder unlösbar - in Erscheinung, sobald dieser Mensch so alt ist wie die Eltern waren, als die Erfüllung der Aufgaben versäumt wurde, und wenn er so alt ist wie jene Vorfahren, als sie die Erfüllung der ihnen zufallenden Aufgaben vermissen ließen. Es ist dann, als würde der betreffende Mensch zurückgetragen (lat. „relatus“) in jene Zeit, da sich die bis dato unerfüllte Aufgabe stellte.

      Die Frage nach dem Befinden erweist sich unter den genannten Gesichtspunkten biografischer Analyse als die Frage nach dem Eigentumsrecht am Leibe. Alle Symptomatik bringt zur Geltung, dass die Eigentümlichkeiten des Leibes aus der Kindschaft, also aus der Zugehörigkeit zu den ursprünglich Nächsten dieses Menschen erwachsen. Sie entstammen dem ebenso dunklen wie unauslöschlichen primären Zweck jeder Zeugung: als verlängertes Organ im Dienst der Zeugenden zu fungieren, woran schon der etymologische Bezug erinnern sollte: dass aus „Zeugung“ in erster Linie „Zeug“ entsteht. Und „Zeug“ heißt ursprünglich „Hilfsmittel“. Diese Tatsache wird zwar gewöhnlich weder unter „Kindheit“ noch unter Kindschaft verstanden, ist aber deren Wesen und Wirklichkeit.

      5. Die „Freiheit“ des Kindes ist das Spiel. Spielerisch kann das Kind alle Rollen annehmen, die ihm von den Eltern übertragen werden, ohne darunter ernstlich zu leiden. Der Ernst des Lebens erinnert dann aber daran, dass seine wahre Position nicht die Position derer ist, die es vertritt. Der Ernst des Lebens bestimmt sich sowohl zeitlich und örtlich als auch funktionell durch den Unterschied, der das Kind als Vertreter von den Vertretenen trennt. Dieser Unterschied entspricht zunächst nicht dem zwischen Original und Kopie, sondern er entspricht dem Unterschied zwischen dem ursprünglich Verantwortlichen und dem nachträglich Verurteilten. Die Frage nach dem Leibe bleibt also oberflächlich und unhistorisch,

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