Versuchung. Nina Galtergo

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Versuchung - Nina Galtergo

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immer noch fest. Zufrieden merkte er, dass sie beide schneller atmeten.

      Doch sie hörte es. Jemand stöhnte, und dieses Stöhnen klang nicht nach Zahnschmerzen. Es holte sie zurück aus dem siebten Himmel auf den harten Tatsachenboden. Und die Realität sah wie folgt aus: Sie in der Firma ihres Mannes eng umschlungen knutschend mit dem Referendar in dessen Büro. Noch Fragen?

      „Hörst du das?“

      „Was?“

       „Dieses Stöhnen!“

      Er lauschte angestrengt, dann sagte er: „Ich höre nur diese grässliche Musik!“

      Das Geräusch war weg.

      „Jetzt höre ich's auch nicht mehr.“

      „Das hast du dir bestimmt nur eingebildet“, versonnen strich er ihr über die Wange, er hatte das Gefühl, das nun zu dürfen.

      Erst jetzt fiel ihr auf, dass sie immer noch ganz eng beieinander standen. Wenn jetzt jemand hereinkam, brauchte der- oder diejenige keine Brille, um zu sehen, was hier passierte. Also machte sie einen kleinen Schritt rückwärts, um ihn wieder auf Abstand zu bringen, so schwer ihr das auch fiel. Er ließ seine Hände sinken. Ein brennendes Schamgefühl breitete sich in ihr aus.

      „Du hast Lipgloss am Mund“, klärte sie ihn verlegen auf und erschrak ein wenig über die abweisende Distanz in ihrer Stimme, denn sie klang mit einem Mal unglaublich arrogant. Er wischte sich schüchtern lächelnd mit dem Handrücken über seine Lippen. Wie jugendlich diese Geste noch wirkte.

      „Wir sollten da wieder rausgehen“, schlug sie vor und streckte ihren Rücken durch, bemüht um Haltung. Dabei war sie eben nicht weit davon entfernt gewesen, Dinge zu tun, die sie nicht tun sollte, schon gar nicht hier und nicht mit ihm. Das, was sie getan hatte, war schon viel zu viel gewesen. Sie durfte das nicht, das war nicht in Ordnung.

      Innerlich zuckte er voller Enttäuschung zusammen über ihr plötzliches Von-oben-herab. „Ja, das wäre wohl klüger“, presste er hervor. Ein tonnenschwerer Stein machte sich in seinem Magen breit. Sie hatte ihn augenscheinlich nur benutzt, um auf die Schnelle ihr Ego aufzupolieren. Und das war es jetzt.

      Sein enttäuschtes Gesicht erfüllte sie mit Kummer und Mitleid. Und ganz plötzlich überkam sie die erschreckende Gewissheit, dass dieser Mann ihr mehr bedeutete als er es sollte. Er sollte ihr einerlei sein, ein Spielzeug höchstens, um sich ein wenig den Alltag zu versüßen, aber er brachte sie stattdessen aus der Fassung, völlig aus dem Gleichgewicht. Er war ihr ganz und gar nicht einerlei, er war ihr wichtig, und das nach einem einzigen Kuss. Ihn nun von sich zu weisen und damit offenbar zu kränken, fiel ihr schwer und tat ihr immens leid, war jedoch unvermeidbar, weil ihre Situation alles in allem schlicht unmöglich war. Wenn sie alleine hier mit ihm gewesen wäre, hätte sie ihn wieder geküsst, um ihn zu trösten. Doch diese Option war ausgeschlossen, denn sie befürchtete, dass sie einen weiteren Kuss nicht schadlos überstehen würde – und das wohl nicht grundlos. Wenn die Tür aufginge... nicht auszudenken. Und noch schlimmer: Wenn sie sich weiter hinreißen ließe, würde sie mit ihm auf oder unter seinem Schreibtisch enden, in jedem Falle aber auf oder unter ihm, und das war schlicht unmöglich. Sie war immerhin keine Ehebrecherin, nur ein wenig frustriert. Aber ein Kuss, meine Güte, ein läppischer Kuss. Das konnte ja mal passieren, erst recht auf einer Weihnachtsfeier in angeschickerter Stimmung. D'accord, aber du hast noch nichts getrunken, meine Liebe. Und du bist benebelt wie ein angefixter Junkie.

      Noch immer raste ihr Puls, leider. Aber es hatte sich zu gut angefühlt, um für immer darauf zu verzichten. Schon jetzt war ihr bewusst, dass ihr verfluchter Körper auf der Jagd nach dem nächsten Rausch ihn erneut küssen wollte, denn ihre wackligen Beine sprachen Bände. Untreues Mädchen, untreues, böses Mädchen.

      „Was machen wir jetzt?“, fragte sie zögerlich, doch wenn sie sich nun ohne ein weiteres Wort trennten, könnte sie heute Nacht kein Auge zumachen, wohl nie wieder in zahllosen Nächten. „Ich meine mit uns?“ Sie kramte nebenbei aus ihrem Täschchen den Lipgloss heraus und schminkte sich blind den Mund nach, um ihre Unsicherheit zu überspielen.

      „Gibt es denn ein uns?“, fragte er vorsichtig.

      „Von meiner Seite aus vielleicht“, antwortete sie und klang dabei entspannter als sie es eigentlich war. WAS REDEST DU DA??? Es gibt kein UNS! - Ganz ruhig, nur Marktanalyse, das hat nichts zu bedeuten.

      „Nun ja, ich hätte nichts dagegen“, sagte er entschlossen.

      Von wegen Marktanalyse!

      „Dann sollten wir aber zusehen, dass wir dieses uns vorerst geheim halten.“ Bist du verrückt, Mädchen? Das klingt, als ob du ihn dir als permanenten Liebhaber zulegen möchtest, und nächstes Mal rückt er dir garantiert komplett auf die Pelle. HALLO! Das möchtest du nicht! - Ach nein?

      Er nickte. Was hatte er auch erwartet nach einem einzigen Kuss? Dass sie ihn vom Fleck weg gegen ihren Mann eintauschen würde? Aber er würde dranbleiben und auf keinen Fall den edlen Helden spielen und verzichten. Wenn sie es war, die Eine, dann würde er sie nicht wegen eines großkotzigen, backpfeifengesichtigen Ehemanns ziehen lassen, um auf ewig im Ehe-Nirvana vor sich hinzudümpeln. Der Einsatz war hoch, doch der vermeintliche Gewinn übertraf den Einsatz bei weitem. Zwar war er kein Frauenexperte, weiß Gott war er das nicht, doch sein Gespür sagte ihm, dass sich der Einsatz auszahlen würde, denn irgendwie wollte sie ihn genauso wie er sie, das hatte der Kuss offenbart, zumindest in seiner fortgeschrittenen Phase.

      „Aber wir müssen dieses uns auch pflegen, denn ein Kuss macht noch kein uns“, warf er lächelnd ein. „Ein 'uns' heißt, dass wir uns ab und zu mal sehen sollten, oder nicht?" Das war ungeheuer mutig, das war ihm sonnenklar. Und dennoch riskierte er eine dicke Lippe, weil er auf keinen Fall wollte, dass sie nun einfach so ging.

      Auch wieder wahr. Damit lag er zwar richtig, doch dieses Gespräch, die ganze Situation überrannte sie plötzlich. Raus hier, weg hier! Ihr Mann suchte sie bestimmt schon, und wenn er sie aus diesem Büro würde kommen sehen, konnte es Ärger geben, großen Ärger, und nicht nur für sie. Das wollte sie auf gar keinen Fall riskieren. Und sie hatte schon viel mehr gegeben, als sie zu geben bereit gewesen war, das Regal war leergefegt wie am Morgen des 24. Dezembers, nichts mehr da, alles ausverkauft.

      Aber sie hatte auch mehr bekommen, als sie in ihren kühnsten Träumen erwartet hatte, das Lager der Süßwarenabteilung war mit einem Mal prall gefüllt.

      Hektisch wandte sie sich zur Tür um. „Warte“, sagte er und schob sich an ihr durch zur Tür, und diese erneute körperliche Nähe ließ sie innerlich erzittern. Es war Lichtjahre her, seit sie so nah an einem fremden Mann gestanden hatte. Er öffnete die Tür einen Spalt breit und linste in den Flur.

      „Komm“, wisperte er ihr zu, und sie huschte nach draußen. Keine zehn Sekunden später kam eine der Ehefrauen, deren Namen sie immer vergaß, aus dem großen Besprechungsraum in den Flur. Sie lächelte Christoph und Kirsten freundlich zu, die sich in Windeseile ihre alten Gläser wieder geschnappt hatten, die Dame war offenbar nichtsahnend, so dass sie wohl niemand vermisst oder ihr Fehlen bemerkt hatte. Kirsten kam sich vor wie ein Teenager, der verbotenerweise den Lehrer geküsst hatte. Sie spürte förmlich die Schuld auf ihren Lippen prangen und schämte sich plötzlich sehr dafür, dass sie so eine leichte Beute für ihn gewesen war. So willig und billig hatte sie sich darauf eingelassen. Was, wenn er nur mit ihr spielte? Und zu guter Letzt vielleicht wie eine Petze zu ihrem Ehemann rannte und dem steckte, wie leicht er sie herumgekriegt hatte?

      Nun mach mal halblang, Kirsten, meldete sich ihr Gewissen. Ihr habt euch nur geküsst, mehr ist ja nicht passiert. Herumgekriegt hat er dich nicht.

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