Gefängnistagebuch 1944. Ханс Фаллада
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Ich sah ihn fest an. »Und ich steige nicht aus diesem Wagen!« rief ich dann und klammerte mich mit den Händen in die Polster. Ich schrie ihm ins Gesicht: »Sie werden mich nicht auf der Flucht erschießen! Wenn Sie mich erschießen wollen, müssen Sie mich schon in Ihrem Wagen erschießen! Und wenn die Polster noch so zerfetzt sind, man wird es doch sehen!«
Einen Augenblick sahen wir uns beide stumm an. Sein Gesicht war schneeweiß, wie wohl auch das meine. Plötzlich wandte er sich scharf um und rief zu seinen Leuten hinüber: »Ihr da, kommt mal her!« Ich klammerte mich noch fester, ich zitterte an allen Gliedern. »Sie sollen mich nicht hinausschleppen«, dachte ich. »Nur im Wagen sollen sie mich erschießen!« All mein Wille war nur darauf konzentriert, im Wagen erschossen zu werden, das wollte ich. Daß ich erschossen werden würde, das interessierte mich im Augenblick kaum noch.
Langsam kamen die Leute über die Landstraße näher, die Zigaretten hingen schief in ihren Mündern, alle Augen sahen auf mich. Die Sekunde der Entscheidung war gekommen. Aber anders fiel diese Entscheidung, als wir alle erwartet hatten. Ganz mit unserer Auseinandersetzung beschäftigt, war ein großer Wagen von Berlin herunter gekommen. Jetzt hielt er bereits und unser guter Arzt rief mir vom Fenster aus zu: »Aber, Herr Fallada, was machen wir denn hier auf der Landstraße?«
»Oh«, sagte ich, »ich fahre mit den Herren nach Fürstenwalde aufs Gericht. Grüßen Sie bitte meine Frau und sagen Sie ihr, es gehe mir gut.«
»Schön, schön«, sagte der Arzt. »Ich will es ausrichten. Gute Fahrt dann!« Aber er gab seinem Chauffeur keine Anweisung, weiter zu fahren. Er blieb stehen. Meine Eskorte hatte einander Blicke zugeworfen. Nun hatten sie sich entschlossen, sie stiegen wieder ein. Der letzte drehte die Kurbel, warf den Wagen an. Wir starteten, von dem dürren Platz, an dem ich hatte sterben sollen, fuhren wir fort. Ich hatte das sichere Gefühl, daß ich fürs Erste gerettet war. Schon die mürrischen, unzufriedenen Gesichter meiner Begleiter verrieten mir das. Und dann, wenn ich den Kopf vorsichtig wandte, sah ich den großen Wagen des Arztes, der unserem Schneckentempo folgte. Er war nicht weiter gefahren, der Gute – oh, man wußte es damals in deutschen Landen, was solch ein Wagen mit SA – ein Zivilist dazwischen, bedeutete!
Wir fuhren in das Städtchen Fürstenwalde ein. Es ist nur ein kleines ärmliches märkisches Städtchen mit einem erbärmlichen Kopfsteinpflaster, aber ich begrüßte es wie die hochgebaute Stadt Zion, die Stadt des Erlösers: der schlichteste Bürger, die spielenden Kinder auf der Straße, alles verstärkte mein Gefühl von Sicherheit. Die schwerste Gefahr war erst einmal überwunden, auf der offenen Straße legten selbst die Nationalsozialisten damals ihre Gegner noch nicht um.
Wir hielten vor der Polizeiwache, in der mein Führer mit ein paar seiner Trabanten verschwand. Wir mußten lange warten, auch diesmal schien es mit mir nicht alles ganz glatt zu gehen. Es ging wirklich nicht glatt: wenn seine eigene SA auch Göringsche Anordnungen nicht befolgte, andere taten es. Nach einer Weile erschien mein Führer wieder mit einem blau uniformierten Stadtsoldaten, zeigte auf mich und sagte: »Das ist er. Nehmen Sie ihn in Schutzhaft.«
»Das tue ich nicht«, sagte der Stadtpolizist störrisch. »Ohne Papiere tue ich das nicht.«
»Aber ich sage Ihnen doch, ich besorge Ihnen die Papiere! Ich kann den Mann doch nicht so lange frei herumlaufen lassen! Der wird nicht auf mich warten! Also los!«
»Erst die Papiere!« war die Antwort. »Ohne Papiere können wir hier keinen reinnehmen.« Der Mann blieb unerschütterlich. »Himmelarschundwolkenbruch!« fluchte der Führer zornig. Und besann sich, ein Ausweg war ihm eingefallen. »Also kommen Sie rein. Ich will Ihnen selbst die Papiere ausstellen.«
Sie verschwanden, und diesmal waren die Verhandlungen erfolgreich. Als sie wieder erschienen, brummte der Blau-Uniformierte: »Also, kommen Sie mit.« Ehe ich ihm folgte, warf ich noch einen Blick auf die braun Gehemdeten. Das mehrstündige Zusammensein mit ihnen hatte meine Sympathien für sie nicht verstärkt. Ich hatte den allerdringendsten Wunsch, mit sowas nicht so bald in meinem Leben wieder in Berührung zu kommen, am liebsten überhaupt nicht.
Die Zelle, in die ich gebracht wurde, war das allergemeinste, allerschweinischste Loch, in dem ich in meinem Leben je gewesen bin. Ich meine hier nicht einmal so die Unflätereien, mit denen die ehemals geweißt gewesenen Zellenwände von oben bis unten bedeckt waren, teils mit Bleistift gekritzelt, teils mit einem Nagel in den Kalk der Wand gekratzt. Sondern ich meine die allerprimitivste Sauberkeit. Der Strohsack, der völlig zerlumpt war, das Stroh, das faulig und gedrückt aus ihm hervorkroch, der verdreckte, mit Schmutzbrocken bedeckte Boden, all das legte ein deutliches Zeichen dafür ab, daß in der Verwaltung der guten Stadt Fürstenwalde auch im Dritten Reich etwas nicht stimmte. Als ich den Strohsack mit zwei Fingern etwas anhob, entdeckte ich Scharen von Wanzen und nun, aufmerksam geworden, sah ich ihre Spuren überall an den Wänden, in der Nähe des Bettes, breite braunrote Blutplacken oder breit geschmierte zerdrückte Wanzenleichen mit ihren spitz verlaufenden Blutbahnen hinter sich. Das Schlimmste aber an diesem ekelhaften Ort war der Kübel in der Ecke, der defekt und lange nicht geleert, eine breite Schmutzpfütze aus Kot und altem Urin um sich hatte. Obwohl die meisten Scheiben in dem hoch angebrachten Zellenfenster zerbrochen waren, war die ganze Zelle dick von diesem infernalischen Gestank erfüllt, der jedes Atmen zur Qual machte. Ja, man ekelte sich zu atmen, es war einem widerwärtig, diesen unsauberen Gestank auch nur für einen Atemzug in den eigenen Körper zu lassen. Man konnte nicht sitzen und nicht liegen, eigentlich konnte man nicht hin und her gehen, nur ein kleiner Fleck war so weit sauber, daß man wenigstens auf ihm stehen mochte.
Und es ist seltsam zu sagen: ich war eben erst einem fast sicheren Tode entronnen, ich befand mich in gewissem Maße geborgen, aber die Empörung über den Saustall, in den man mich gesteckt hatte, überwog alles. Ich war auf meine Braunhemden, die mich doch hatten umbringen wollen, nicht annähernd so wütend gewesen wie auf den Blau-Uniformierten, der mich in dieses Loch gesteckt hatte. Ich war ein Schutzhaftgefangener, und mir wagte man es, eine solche Pennerzelle zu bieten, ein Loch für unsauberes Gesindel! Wußten die Kerls denn gar nicht mehr, was Recht in Deutschland war?! Dann war es aber die höchste Zeit, daß ich es ihnen beibrachte! Und ich fing an, abwechselnd mit den Händen und mit den Hacken gegen die eisenbeschlagene Tür zu trommeln. Es hallte dumpf im Gang wider, eine andere Wirkung tat es aber nicht. In Abständen trommelte ich weiter, dazwischen brüllte ich, aber niemand kam. Das verwunderte mich aber nicht: ich wußte, was für eiserne Nerven Polizeibeamte haben können, die eine Nacht lang auf der Pritsche in Bereitschaft liegen und schlafen, während in der Zelle nebenan ein eben sistierter Betrunkener wütend deliriert, oder gar ein vom Alkohol wild gewordenes Weib seine Zoten herausgellt. Ich konnte es mir also ganz gut vorstellen, daß mein Blaugerockter in seiner Wachtstube da vorne bei all meinem Getobe ein ruhiges Nachmittagsschläfchen abhielt, zumal dies der erste wirklich schöne warme Frühlings-Nachmittag war. Ich hämmerte und schrie deswegen aber ruhig weiter: es war doch auch ein gewisser Zeitvertreib.
Ich war wieder einmal gerade im besten Hämmern und Johlen, als plötzlich die Zellentür überraschend aufging, und ein Blau-Uniformierter vor mir stand. Es war aber ein anderer als der vom Mittag. »Was machen Sie denn für einen Krach?« fragte er gemäßigt und gnädig und ohne jedes wirkliche Interesse. »Ich verlange erstens eine anständige Zelle und nicht solch ein Scheißloch!« schrie ich wütend. »Zweitens verlange ich ein Mittagessen! Ich bin Schutzhaftgefangener und habe ein Recht das zu verlangen!«
»Na, dann seien Sie man froh, daß Sie so ’n Recht haben!« antwortete er, schmiß die Tür wieder zu und schob die Riegel vor. Über mein neuerliches Wutgebrüll hörte ich ihn ganz gemütlich auf dem Gang