Stieg Larsson lebt!. Didier Desmerveilles
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In herzlicher Verbundenheit
Henrik
Prolog
Sie floh. Niemals zuvor hatte sie so etwas empfunden, so eine totale, umfassende, existentielle Angst. Es war die Angst vor dem Nichts, dem Ausgelöschtsein, dem Dunkel der unendlichen Nacht. Aus ihr schöpfte sie die geradezu übermenschliche Kraft, mit der es ihr gelang, sich von ihrem Peiniger loszureißen. Blindlings, richtungslos hastete sie durch das Dickicht. Eine aus ihrer Nachtruhe aufgescheuchte Krähe schwang sich mit einem ärgerlichen Krächzen in die kühle Luft empor. Zwischen den düsteren Wolken ließ sich das blasse Antlitz des Mondes sehen. In der Ferne irgendwo heulte ein Uhu. Sie hatte keine gute Stelle gewählt. Dichtes Gebüsch und die Zweige eng stehender Bäume wehrten sich gegen ihr Eindringen mit fauchenden Peitschenhieben. Fichtennadeln zerkratzten ihr Hände und Gesicht. Schließlich stolperte sie und fiel. Sie fühlte die widerliche Hand des Peinigers ihren Fußknöchel umklammern. Dann stürzte er sich auf sie, und ihr Herz schien stillzustehen. Noch einmal wehrte sie sich verzweifelt, schlug um sich, kratzte, biss. Dabei verhedderte sich ihre Hand in einem Metallband, das ihr Feind um den Hals trug. Als sie sich davon freizumachen versuchte, bekam sie etwas Festes zwischen die Finger. Aus einem Impuls heraus zerrte sie daran. Es gab nach. Sie verschloss es in ihrer Faust, als könnte darin eine letzte Rettung liegen wie von einem magischen Amulett. Dann trafen sie auf einmal überall schmerzhafte Schläge, Schläge wie von einer Keule, so hart, so grausam, eine wüste, wütende Kanonade, die ihren Widerstand zertrümmerte. Eine monströse Klinge blitzte eine Zehntelsekunde lang über ihrem geschundenen Körper im fahlen Mondlicht auf, ein rötliches Schimmern. Blut. Ihr Blut. Nein, nein, schrie sie. Oder dachte sie es nur? Konnte sie noch schreien? Jetzt erst begann ein grausam stechender Schmerz in Bauch und Brust zu wüten. So viel Schmerz ist Tod. Das spürte sie und spürte den Tod in ihre Glieder kriechen, den kalten, finsteren, den unwillkommenen Gast. War das das Ende? Ach nein, bitte nicht! Sie liebte das Leben so sehr. Sollte sie wirklich den Tag nicht wiedersehen? Sollte in einer solchen Nacht alles enden? Ach, lieber Gott, falls du dort irgendwo bist, bitte, bitte, bitte nicht!
1 Der Fund
Auf einer Länge von exakt 98,7 Kilometern durchschneidet an ihrem südlichen Ende der Nord-Ostseekanal die Halbinsel Jütland und auf ihr das nördlichste deutsche Bundesland. Von der Kieler Bucht schlängelt sich die künstliche Wasserstraße, die eine der meistbefahrenen der Welt ist, an Rendsburg vorbei südwestwärts durch die norddeutsche Landschaft, gesäumt von Feld, Wald und Wiesen, wird dabei von zwei Autobahnen sowie der einzigartigen Rendsburger Schwebebahn überbrückt und an ihrem Endpunkt bei Brunsbüttel schließlich, die Türme eines maroden Atomkraftwerks im Rücken, eins mit der Elbe. Wie an der Hand einer großen Schwester strömt sie nach dieser Vereinigung hinaus in die unendliche Weite der rauen, nicht selten stürmischen Nordsee.
Natürlich haben sich die Schleswig-Holsteiner in ihrer schlichten Art nach hundert Jahren längst an dieses künstliche Gewässer in ihrem Binnenland gewöhnt. Keiner lebt mehr, der noch wüsste, wie es ohne den Kanal einmal war. Aber irgendwie ein komisches Ding, das der Ordnung der Natur gemäß hier nicht hingehört, ist es doch. Das spürt jeder, besonders dort, wo Wald an den Kanal grenzt. Hier kann es nämlich einem Wanderer, der sich im Wald verlaufen hat, durchaus passieren, dass in der Lichtung, der er sich hoffnungsvoll zu nähern meint, aus herbstlichen Nebelschwaden, wie von Geisterhand bewegt, ganz unvermittelt gespenstische Ozeanriesen vor seinen Augen auftauchen, und er wird Mühe haben, diesen zu trauen. Wer rechnet schließlich damit, mitten im Wald auf riesige Frachter und Passagierschiffe zu stoßen? Wüsste nicht jeder um die wirtschaftliche Notwendigkeit, der der Kanal seine Entstehung verdankt, er hielte diesen Giganten mitten im schleswig-holsteinischen Binnenland beim ersten Anblick für eine verrückte Laune der Natur.
Gerade der Kontrast zwischen typischer Binnenlandvegetation und der wie aus dem Nichts dahergekommenen wunderbar weiten Welt der Meere, die der Kanal verbindet, macht jedoch seinen eigentümlichen Reiz aus, und deswegen liebte es Tim, sich in seiner Nähe in Begleitung von Cano, einer Hirtenhund-Straßenhund-und-noch-was-anderes-Mischung, so ausgedehnten Spaziergängen hinzugeben. Aus dem Dickicht des Waldes, aus einem Knick oder dem Gebüsch am Rand einer Wiese hervorzutreten und urplötzlich vor leise plätschernden Wassermassen zu stehen, das hatte etwas Unvergleichliches. Manchmal, wenn der Übermut ihn stachelte, kam es auch vor, dass er sich auf einem einsamen Feldweg, der kilometerlang parallel zum Kanal verlief, Wettrennen mit langsam vor sich hin tuckernden Frachtern lieferte, ehe er, zermürbt vom lächerlich geringen, aber stur und unbeirrbar gleichmäßigen Tempo des Schiffes, schließlich aufgeben musste. Zu Fuß hatte nur Cano, schnell wie der Wind und nur durch einen entschlossenen Pfiff seines Herrn zu bremsen, eine Chance mitzuhalten. Mit dem Fahrrad hatten dagegen Herr und Hund, beide, schon so manches Schiff, das sich schwerfällig durch die neun bis elf Meter tiefe und mehr als doppelt so breite Fahrrinne seinen Weg bahnte, hinter sich gelassen – zumindest bis zu dem Punkt, wo sie, von einer Wegbiegung oder der trivialen Kategorie Zeit in eine andere Richtung genötigt, es doch ziehen lassen mussten und ihm auf seinem unaufhaltsamen Weg hinaus in die wunderbar weite Welt der Meere nur nachwinken konnten, gefangen in den Zwängen und Schranken ihrer kleinen Festlandwelt, vielleicht etwas Fernweh im Herzen.
Cano war sein treuer Begleiter