Stieg Larsson lebt!. Didier Desmerveilles
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Читать онлайн книгу Stieg Larsson lebt! - Didier Desmerveilles страница 6
»Könnte er auch eine Sie sein? Und kann man das Alter nicht genauer bestimmen?«
»Oh«, entglitt es Freya plötzlich, als hätte sie etwas entdeckt. Tims Frage schien sie überhaupt nicht zur Kenntnis genommen zu haben. »Was ist denn das?« Sie griff nach einem der Mittelhandknochen. Ihre wissenschaftliche Neugier schien erwacht. »Sieht aus, als hätte unser Freund hier irgendwann mal einen Handbruch erlitten. Man kann die Fraktur noch erkennen«, sagte sie mehr zu sich selbst als zu Tim. »Äh, was wolltest du wissen?«
»Kann man nicht eine genaue Analyse machen, um über den Zeitpunkt des Todes, über die Herkunft des Opfers und solche Sachen mehr zu erfahren?«
»Sag mal, spinnst du? Das ist hier keine Gerichtsmedizin!«
»Aber zu der bestehen doch bestimmt Kontakte.«
»Willst du jetzt Detektiv spielen oder was?«
»Immer im Dienste der Wahrheit«, sagte er ruhig.
»Das ist ein Fall für die Polizei!«
»Polizei! Du weißt doch genauso gut wie ich, dass das Einzige, was die wirklich interessiert, die Verteilung von Knöllchen an jeden deutschen Parksünder ist. Glaubst du, die machen ihren Rücken für so'ne uralte Geschichte krumm, die zig Jahre zurückliegt? Das ist Zusatzarbeit für Unterbezahlte.«
»Und wenn das nun ein Mord gewesen ist? Dann ist das ein Fall für die Mordkommission.«
»Das ist mein Fall«, widersprach Tim so energisch, dass das erst mal ein Schweigen gebot. Tim merkte, dass er etwas übers Ziel hinausgeschossen war und versuchte abzuschwächen: »Zunächst ist das mal mein Fall. Ich hab' schließlich die Dinger da gefunden.«
»Du hast vielleicht Humor«, fand Freya ihre Sprache wieder, »knallst mir hier 'n paar Menschenknochen auf'n Tisch und sagst: ›Das ist mein Fall!‹ Wir sind hier doch nicht bei Quincy, das ist blutiger Ernst!«
»O.k., o.k., du hast recht. Ich werde die Polizei benachrichtigen. Aber auf ein oder zwei Tage wird es ja wohl nicht ankommen, nachdem die Leiche dort jahrzehntelang verbuddelt gewesen ist.«
»Die Leiche? Hast du denn noch mehr ...?«
»Nein. Ich weiß auch nicht, warum ich das gesagt hab'. Ich war zwar gestern mit dem Hund noch mal da und hab' stundenlang das Gelände durchwühlt, aber es war nichts weiter zu finden. Demnach kann man gar nicht wissen, ob wirklich jemand gestorben ist ...«
»Aber mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit. Oder hast du jemals davon gehört, dass jemand sich 'n Arm abhackt, um ihn danach im Wald zu vergraben? Ich hab' in meiner medizinischen Praxis schon 'ne Menge abnormer Dinge erlebt, aber das –«
»Abnorm ist die Sache allemal«, unterbrach Tim sie, »und ich träum’ nachts auch schon schlecht davon.«
Freya rückte ihre Brille zurecht und sah sich einige der Knochen gründlicher an. »Sieht in der Tat so aus, als wäre am Oberarm gesägt worden, diese Spuren ... Mal überlegen ... Was hältst du von folgender Hypothese: Jemand wurde ermordet und, um Spuren zu verwischen, um die Identifikation zu erschweren, hat sein Mörder ihn zersägt. Uh!« Die Vorstellung ließ ihr einen Schauer in die Glieder fahren. »Und die einzelnen Leichenteile wurden dann an verschiedenen Orten verscharrt. Das wäre ja nicht das erste Mal. Von so einem Fall hab' ich schon häufiger gehört. Wenn es nicht so makaber wäre – es erscheint zumindest logisch.«
»Die Logik eines Mörders«, stimmte Tim zu.
»Mann, wo bin ich da reingeraten? Gruselig. Mit dir erlebt man wirklich die unglaublichsten Dinge, Timmi. Ich glaub', ich mach' uns noch 'n Tee. Was hast du eigentlich gemacht seit damals? Noch mehr so Sachen?«
Tim fiel darauf keine Antwort ein, mit der er hätte zufrieden sein können. Schweigen breitete sich aus. Freya legte nach: »Wie ist es dir ergangen?«
Gern sprach er nicht über sich selbst und über sein Leben. Ja, seit dem Studium war Zeit vergangen. Und in dieser Zeit hatte Tim sich, wenn er ehrlich war, zurückentwickelt. So musste man das wohl nennen. Ein Sonderling war er ja immer gewesen, aber doch immerhin einer mit Humor, schlagfertig sogar und mit wacher Lust am Gespräch. Und jetzt?
Seit knapp drei Jahren arbeitete er als Lektor für einen Verlag, der vorwiegend Bildbände herausgab. Den Großteil seiner Arbeit konnte er zu Hause am Computer erledigen. Nur zwei, drei Mal pro Woche fuhr er nach Hamburg, um vor Ort Detailfragen zu klären, Absprachen mit Kollegen zu treffen, Anweisungen zu geben, an Sitzungen und Besprechungen teilzunehmen, mit Autoren und Fotografen zu reden, teure Ferngespräche zu führen oder teure Farblaserausdrucke machen zu lassen, eben all die Dinge, für die ein Büro in der Großstadt von Nutzen ist. Tim liebte die Stadt nicht. Und er liebte die Menschen nicht. »Nichts flößt mir weniger Vertrauen ein als Menschen«, hatte er in der Anfangszeit einem Kollegen gestanden, dem er offensichtlich sympathisch war. Das beruhte allerdings nicht auf Gegenseitigkeit. »Hast du Lust mit rüber zum Döner-Laden?«, hatte der einmal sogar gefragt. Einige aus dem Verlag aßen dort regelmäßig zu Mittag. Aha, so'n sozial Kompetenter, hatte Tim gedacht, der Menschen gern heimlich analysierte. Er hatte auf seine Tupperdose mit Schwarzbrot-Stullen verwiesen, verlegen gelächelt und dankend abgelehnt. Er rechnete sich selbst, und zwar völlig ungehemmt, der Spezies seltsamer Einsiedler zu. Irgendetwas hielt ihn von der Menschheit fern, irgendeine unbestimmte Angst. Schon als Kind hatte er den Alm-Öhi aus »Heidi« bewundert, vor allem in der Lebensphase vor Heidi. Tatsächlich erinnerte seine Lebensweise von ferne an das literarische Vorbild: Zurückgezogen lebte er in einem renovierten Bauernhaus. Statt der Berge gab es den Kanal. Die nächste Siedlung, eine Art »Dörfli«, war fünf Kilometer entfernt und ihr wichtigstes Gebäude ein Altenheim. Man kann schwerlich umhin, aus all diesen Beobachtungen zu folgern: Tim brauchte keinen Menschen auf der Welt. Und vielleicht war es auch keine Übertreibung zu sagen: Andere Menschen waren ihm total egal. Aber sollte er das alles seiner alten Studienkollegin anvertrauen? Was würde sie davon halten?
Tim antwortet: »Ach, man leibt und lebt.« Und erst als der Satz schon ausgesprochen im Raum stand, bemerkte er, dass er die Reihenfolge der beiden Verben durcheinander gebracht hatte. Das mit dem Verlag erwähnte er auch noch kurz. Dann nahm er einen Schluck Tee und schlürfte dabei leicht.
Als die Dämmerung einsetzte, verabschiedete sich Tim ebenso plötzlich, wie er mit dem Telefonanruf nach so langer Zeit aus der Versenkung aufgetaucht war. Dieser Tim Rasmussen war doch ein unergründlicher Kerl. Aber Freya mochte ihn, sie mochte seine unterkühlte, scharfsinnige und bisweilen ironisch-spitzfindige Art. Und sie hatte gleich gewusst, dass sie ihm seine Bitte nicht würde abschlagen können. Sie versprach ihm also, sich um die erwünschte Analyse zu bemühen. »Sobald die Ergebnisse vorliegen, ruf' ich dich an. Deine Nummer hab' ich noch irgendwo. Immer noch das einsame, alte Bauernhaus zwischen Kiel und Rendsburg, das du von deinem Opa geerbt hast?«
»Inzwischen mit komplett renovierten Wohnräumen. Manche Träume werden eben doch Wirklichkeit.«
»Wusste gar nicht, dass man beim Verlag